An den Rändern der Gesellschaft ist der Schrei jener zu hören, die Drogen anschaffen müssen. Ihnen eine Stimme zu geben, hat sich vor über 30 Jahren die Gruppe um den Seelsorger Sepp Riedener auf den Weg gemacht. Ein Buch handelt von dieser "30-jährigen Zusammenarbeit von Kirchen und staatlichen Institutionen zugunsten von suchtbetroffenen Personen".1
Vom Rand her gekommen
Der Pionier S. Riedener kam selbst aus armen Verhältnissen und blickt zurück auf die Anfänge der kirchlichen Gassenarbeit. Diakonie, Ökumene und politische Arbeit wurden neu buchstabiert. Im sozial unterkühlten Klima bekam erste Gesichtszüge, was ab 1985 in der Jugendseelsorge Ziel war, sich auf Menschen in den Gassen auszurichten. Für sie setzten sich "charismatische Leitwölfe" (23) bis zur Selbstausbeutung ein. Aus den Schilderungen hört man die Stimme des Pioniers, der mit der drängenden Not konfrontiert auf Dringlichkeit der Gassenseelsorge setzt. Geradezu jesuanisch fühlt sich sein Unterton an. Chronologisch erzählt Riedener (29– 33) nicht einfach den Gang der Dinge, eher schlaglichtartig über Beklemmnis und Not, durch welche eine hohe Anzahl Obdachloser gingen, über die Neuorientierung mit Aufbau der Lebenshilfe, der bis heute in der Agglomeration bekannten "Gassenzeitung ", schliesslich über das "Paradiesgässli", der Anlaufstelle für suchtbetroffene Eltern und ihre Kinder.
Sicht der Organisations- und Gemeindeentwicklung
Eine Einordnung bietet der evang.-reform. Pfarrer und Organisationsentwickler Beat Hänni, basierend auf dem Vier-Phasen-Modell von Organisationen, der Pionier-, Differenzierungs-, Integrations- und Assoziationsphase nach Fritz Glasl.2 Die "tiefe Überzeugung, dass auch drogenabhängige Menschen Würde haben", trieb zu einer Arbeit, "die die Kräfte der Helfenden zum Teil fast überstieg" (35). Prägend waren die Entscheide zur ökumenischen Zusammenarbeit, zu Kooperationen mit anderen Fachstellen, öffentlichen Institutionen, der Polizei und der Politik. Dazu kam das Bestreben nach Professionalität und in allem der Grundsatz, mit den Betroffenen "nach Wegen zu suchen, um ihre Not zu lindern" (36). Wie sich zeigt, ist die Professionalisierung einer zunächst recht spontanen Organisation ein langwieriger Vorgang. Hier zeigt sie sich weniger als Palast-, mehr als Zeltorganisation, die aufsuchend-direkt und sinnvermittelnd-partizipativ sein will. Ihre Berechtigung zeigt sie, indem sie mit den Betroffenen den Weg geht, der diese "zu ihrer Würde" (37) führt. Gleichzeitig steht diese aufsuchende Sozialarbeit und mit ihr auch die Kontakt- und Anlaufstelle heute unter professioneller Führung. Leitend ist das AKV-Prinzip von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung (38). Es ist ein Weg, der sich auf der Gasse Menschen gegenüber bewähren muss, die "in ihren Ausweglosigkeiten oft ein besonderes Sensorium für geistliche Fragen" (39) haben.
In der Phase der Integration gilt es, zu einer "seismografisch-prophetischen Rolle für Stadt und Gesellschaft" zu finden. Wird nicht zu Überschätzung führen, diese Rolle ganz zu übernehmen? Hänni macht aufmerksam auf die von Christian Möller festgestellte "Entdiakonisierung" von Kirchgemeinden und plädiert für den Einsatz von "Profis" in einem "frühen Stadium" (40), die wie Riedener "vorangehen können", wenn Kirche von den Rändern her entsteht und Freiwillige in Notlagen zuerst gefragt sind.3
Standortbestimmung und Analyse
In Form einer Standortbestimmung äussert sich Fridolin Wyss, seit 2008 Geschäftsleiter.4 Er unterstreicht u. a. die drei P-Adjektive – partizipativ, professionell, politisch – und setzt auf ausgeprägtes Fachwissen auf allen Ebenen der Gassenarbeit. Als Soziologe geht Ueli Mäder analytisch auf die Entwicklungen im Sozial- und Wirtschaftsgefüge der Schweiz ein.5 Soziales Engagement ist an den Rand gedrängt, braucht sich aber nicht vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis zu scheuen. Der harten Machtlogik des Geldes ausgesetzt bleiben alle Akteure. Während sich da soziale Arbeit "einem mechanischen Prinzip" annähert (73), hält sich Gassenarbeit an "kein Schema F", wird als letztlich auch "aufnehmende Sozialarbeit" flexibel, beharrlich und sensibel sein.
Würde des Menschen
Adrian Loretan unterlegt mit seinem Nachwort, dass die Würde von Menschen und Personen universell gilt und theologisch gesehen "das göttliche Element in jedem Menschen" (129) ist. Darauf spricht die Geschichte vom barmherzigen Samariter an, der ergänzend Hilfe organisiert – Modell für den Aufbau von Zusammenarbeit unter allen in einer Gesellschaft, die ihre Augen vor sozialer Not nicht verschliesst. Der Umgang mit Menschen hat darum einen "letzten Bezugspunkt" im Achtungsanspruch der Menschenwürde (130 f.).6
Der Gründer der kirchlichen Gassenarbeit, Sepp Riedener, spricht am 10. Nov. 2016 um 14.15 Uhr an der Universität Luzern (H 1) zum Thema: "Euch muss es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen" (Mt 6,33). Prophetische Kritik bei Amos, Jesus und bei uns.