4. Sonntag im Jahreskreis; Mt 5,1–12a
Wer kennt solche Erfahrungen nicht? Man sitzt in einem Wartezimmer, eine fremde Person betritt den Raum, lächelt einen an, man lächelt automatisch zurück. Solche Erfahrungen, die durchaus auch gegenteilig ausfallen können, laufen – unabhängig von geltenden Anstandsregeln – zumeist unbewusst ab. Sie zeigen an, dass sich ein wesentlicher Teil unserer Verhaltensmuster und Handlungen als Resonanz(en) der Verhaltensmuster und Handlungen anderer erweist.
Was die Neurophysiologie dazu sagt
Die italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti und Vittorio Gallese haben in den 1995er-Jahren diese Resonanzsysteme an Primaten erforscht und entdeckt, dass dafür auch im Gehirn des Menschen spezielle Nervenzellen verantwortlich sind: die sogenannten Spiegelneuronen. Diese besitzen die Eigenschaft, dass sie sich immer dann aktivieren, wenn allein schon durch Beobachtung von Verhaltensmustern und Handlungen eines Gegenübers bestimmte eigene Verhaltensmuster und Handlungen ausgelöst werden. Sie reagieren also nicht nur bei selbst durchlebten Empfindungen und Erfahrungen (von Sinn und Unsinn), sondern auch dann schon, wenn wir bei jemandem anderen dessen Empfindungen und Erfahrungen wahrnehmen. Seit den Forschungsergebnissen von Rizzolatti und Gallese gelten die Spiegelneuronen als Sitz menschlichen Einfühlungsvermögens und werden daher auch Simulations- oder Empathieneuronen genannt. Sie sind nicht nur wesentlich und entscheidend für das momentane intuitive Einfühlungsvermögen, sondern auch für die grundsätzliche Generierung einer vorbehaltlos offenen Grundhaltung, die basal für alle Reaktions- und Aktionsmuster ist.
Empathie wächst und kann wieder neu erlernt werden …
Lerntheoretische Rezeptionen der Spiegelneuronenforschung zeigen auf, dass Kinder, die ihre Verhaltensmuster an wohlwollenden und wertschätzenden Verhaltensmustern und Handlungen anderer spiegeln und formen können, in ihrem intuitiven Empathievermögen wachsen. Erfahrungen von Geborgenheit und Zuverlässigkeit lassen demnach als Resonanz eine Grundhaltung konstruktiver Sicherheiten generieren, die dann auch mit Unsicherheiten positiv umgehen lassen. Dagegen wird die Generierung des Empathievermögens verhindert, wo Kinder empathiefreien Widerfahrnissen ausgesetzt sind. Stress- und Verletzungserfahrungen befördern vielmehr (selbst-) zerstörerische Grundhaltungen sowie negative Vorbehalte gegenüber anderen. Die Folge sind dementsprechend dekonstruktive Aktions- und Reaktionsmuster, die jedoch nicht unumkehrbar sind. Im Sinne der Spiegelneuronenforschung sind Empathie bis hin zur Compassion (J. B. Metz) immer wieder neu erlernbar – als Lernprozesse vorurteilsfreier und unbefangener Grundhaltungen mit entsprechenden Reaktionsmustern dank Erfahrungen wertschätzender Verhaltensmuster und Handlungen.
Selig seid ihr …
Vielleicht sind die Seligpreisungen deswegen immer wieder so aussagestark, weil sie wie an keiner vergleichbaren Stelle der Evangelien den Blick dafür öffnen, welche Resonanzen der Gott Jesu bei jedem Menschen evozieren möchte, wenn er in dessen Leben tritt. Gleich in welchen äusseren und inneren Lebensumständen – jedem Menschen kommt eine vorbehaltlose Wertschätzung zu, aufgrund derer sich niemand jemals würdelos und minderwertig fühlen sollte. Jeder Mensch, der Gott in sein Leben treten lässt, sollte sich dieser Wertschätzung nicht nur immer wieder neu gewahr werden, sondern sollte sich stets auch ein gewisses Mass an Stolz und Würde bewahren, solche Glaubensevidenzen als «nichtjesuanisch» aufzudecken, die Gott zum Spiegelungspol dekonstruktiver Entwürdigungserfahrungen degenerieren. Und er sollte immer wieder den Mut aufbringen, trotz «negativer Kontrasterfahrungen» (E. Schillebeeckx) eine «Imitatio Christi» zu realisieren, die mit konstruktiver Einfühlung wie vorurteilsfreien, unbefangenen und leidsensiblen Reaktions- und Aktionsmustern insbesondere solchen janusköpfigen Seelentröstern entgegenwirkt, die Menschen zwar mit Empathie, Verständnis und Mitgefühl begegnen, diese jedoch lediglich wie Räucherwerk ihrem gutmenschlichen Ego opfern.
In diesem Sinn erweisen sich die Seligpreisungen in der Tat immer wieder neu als Lernort eines an Empathie dichten Resonanzpotenzials von Kirche. In den in ihr gelebten Verhaltensmustern und Handlungen dürfte kein Platz sein für eine Menschlichkeit, die gelebte Wertschätzung erst aufgrund irgendwelcher Leistungskriterien gewährt oder bestimmten Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände diese von vornherein abspricht. Vielmehr sollte Kirche aufgrund der basalen Wertschätzung Gottes bei jedem Menschen solche Resonanzen evozieren, die sie frei machen von jeglicher dekonstruktiven Tyrannei der Angst und offen machen für ein rückhaltloses Vertrauen in einen sie vorbehaltlos wertschätzenden «Deus Humanissimus» (E. Schillebeeckx).
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Seligpreisungen
Selig der Mensch, der Stück für Stück sein Leben in die Dienste der Mitmenschen stellt.
Selig die Füsse, die stundenlang über staubige Wege marschieren, um Kranken zu helfen.
Selig der Mund, der immer wieder Worte des Mutes und des Trostes findet.
Selig die Hände, die immer frei sind, um Ausgestossene zu umarmen.
Selig die Ohren, die Tag und Nacht offen sind, die Klage der Leidenden zu hören.
Selig die Augen, die sehen die nicht-vergossenen Tränen der Armen.
Selig das Herz, das nicht müde wird, zu schlagen, um Wärme auszustrahlen.
Selig der Mensch, der sein ganzes Leben lang ein Mensch bleibt.
Antonio Sagardoy OCD