Die Feiern zum Gedenken an die Reformation werden das eben begonnene Jahr prägen. Ina Praetorius sieht ihre Gedanken als Übersetzungsversuch.
Ich habe im Frühling 1977 angefangen, Theologie zu studieren. Aufgewachsen bin ich in einer bildungsbürgerlichen Familie: Meine Eltern erwarteten von ihrer protestantischen Kirche nichts, ausser schöne Musik und interessante Gebäude.
Als jugendliche Chorsängerin sollte ich von der Empore herab Kantaten singen, über deren Texte man sich zu Hause lauthals amüsierte. Im Chor wetteiferten wir darin, nicht zuzuhören, wenn gepredigt oder gebetet wurde. Wir würden ja sowieso nichts verstehen, da waren wir uns sicher.
Was geschah im Mai 1977? Ich hatte bereits ein Philologiestudium begonnen, als eine entfernte Bekannte eines Tages diesen scheinbar unscheinbaren Satz zu mir sagte: «Aber Gott liebt uns doch schon, bevor wir etwas geleistet haben!»
Dieser Satz wurde zum Anfang meiner theologischen Existenz. In dreizehn Schuljahren und drei Semestern Universität hatte ich mich nämlich daran gewöhnt, Anerkennung nur für gute Noten zu bekommen. Der Satz «Gott liebt uns doch …» schien demgegenüber etwas Neues, sehr Erfreuliches auszusagen: Wir sind angenommen, nicht weil wir nützlich, sondern weil wir da sind.
Rechtfertigung allein aus Glauben
Im Theologiestudium versteckte sich mein Initialsatz von der bedingungslosen Liebe zunächst in einem riesigen Wust aus gelehrten Formeln. Eine davon wurde besonders oft wiederholt: die «Rechtfertigung allein aus Gnade». Diese Formel entsprach, wie ich schliesslich herausfand, etwa dem, was ich suchte: Du musst dich vor dem LEBENDIGEN nicht mit «guten Werken» rechtfertigen. Es reicht, den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus als «Retter» anzunehmen, um zum «Gottes Kind» und damit frei für ein Leben aus der Liebe zu werden: «So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben.» (Röm 3,28) «Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir im Glauben den Zugang haben zu dieser Gnade, darin wir stehen.» (Röm 5, 1f)
Zwar hatte Jesus bei meinem Entschluss, Theologin zu werden, kaum eine Rolle gespielt. Aber durch viel Studieren gelang es mir schliesslich, eine Beziehung zur zweiten Person der Trinität zu entwickeln, die wohl etwa der vorgeschriebenen Verknüpfung von Sola fide, Sola gratia, Sola scriptura und Solus Christus – Glaube, Gnade, Schrift und Christus allein – entspricht.
Der Professor für Dogmengeschichte erklärte, Martin Luther habe im sechzehnten Jahrhundert die evangelische Kernbotschaft aus einem Sumpf von kirchlicher Macht- und Geldgier gezogen. Hartnäckig habe er, der sensibel-aufbrausende Mönch, gefragt: «Wie kriege ich einen gnädigen Gott?» So habe er die seltsame Praxis der damaligen Kirche, eine Art Ewigkeitsabsicherungssteuer, genannt «Ablass», einzutreiben, ad absurdum geführt. Und aus diesem Konflikt, samt etlichen begünstigenden Begleitumständen, sei dann entstanden, was wir im Jahr 2017 feiern: der Protestantismus.
Die Feierlichkeiten zum Jahr der Reformation
Um herauszufinden, wie sich das Festjahr 2017 zu meinem Vertrauen in die göttliche Liebe verhält, begebe ich mich auf eine virtuelle Reise durch die diversen einschlägigen Webseiten: Da bietet mir der Zürcher REFO-Shop Zwinglitassen an, Brillenputztücher, Kartenspiele und ein Küchenutensil, das sich «Re-Förmchen» nennt. Eine Facebook-Seite namens «Lutherperlen» sammelt zur allgemeinen Erheiterung Links zu Lutherbier, Luther-Apfelbonbons, Luthernudeln und Luther- Gummi-Enten. Die Webseite des gesamtschweizerischen Reformationsjubiläums bietet ein grünes «R» als Bastelbogen und als Foto-App an, mit der man «alltägliche Momente in R-Momente verwandeln» kann. Und dann gibt es da noch Bustouren, Pop-Oratorien, Jugendfestivals, Ausstellungen über diverse tote Männer und «ihre» Frauen und Reformations-Crashkurse. Zwar wird mir refrainartig versichert, man wolle keinen Heldenkult betreiben und keine toten Männer feiern. Dann also Playmobil statt Heldenkult und Bastelbögen statt tote Männer?
Nach ungefähr zwanzig Minuten lasse ich vom Surfen ab und versuche, zu erspüren, welche Gefühle die virtuelle Jubiläumsüberblickstour in mir erzeugt hat. Da ist etwas zwischen Belustigung, Mitleid und Ratlosigkeit.
Ein Übersetzungsversuch
Wo ist in alldem mein Vertrauenssatz geblieben? Ich versuche, ihn mir und anderen so zu übersetzen, wie er sich mir in fast vier Jahrzehnten als hilfreich erwiesen hat:
Ich erkenne, dass ich mich nicht selbst hergestellt habe. Vom ersten bis zum letzten Tag meines Lebens bin ich abhängig. Ich bin keine Selfmadefrau, sondern eine Geborene. Wovon hänge ich ab? Nicht von irgendwelchen Gottverwaltern, die mir Liebe verkaufen wollen, und auch nicht von einem «Herrn», der oben über den Wolken alles im Griff hat. Sondern von ETWAS, von einem UMUNSHERUM, einem ZWISCHEN-ALLEN-UND-ALLEM, einer PRÄSENZ, die meine Vormütter und -väter «Gott» nannten. Von einem unverfügbaren, manchmal spürbaren WOHLWOLLEN, von Wasser, Luft und Erde und allem, was sie hervorbringen, davon, dass meine Mutter mich neun Monate lang in sich herumgetragen und schliesslich in die Welt gesetzt hat, wie Maria den Jesus. Davon, dass meine Älteren mich nicht haben sterben lassen, als ich klein und hilflos war. Davon, dass die meisten Menschen in bezogener Freiheit von der Fülle weitergeben, die sie von IRGENDWOHER bekommen haben.
Davon also, dass die Leute im Allgemeinen so leben, wie Martin Luther es in seiner Schrift «Von der Freiheit eines Christenmenschen» in der Sprache seiner Zeit präzise ins Wort gesetzt hat:
«Sieh, so fliesst aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, den Nächsten umsonst zu dienen.»1 Was folgt also aus solchem Vertrauen? Dass ich nähre, was mich nährt. Dass ich täglich das Notwendige ins Werk setze, damit es uns Menschen gut geht. Dass ich ausruhe, wenn ich müde bin, weil ich dem Wirken des LEBENDIGEN vertraue, auch im Schlaf. Was braucht es mehr?
Geburtliche Gespräche
Irgendwann, es ist noch nicht lange her, ist mir klargeworden, dass der Satz «Gott liebt uns doch schon, bevor wir etwas geleistet haben!» mir damals, im Mai 1977, wohl doch nicht ganz neu war. Genau besehen erinnerte er mich an ETWAS, das ich als kleines Kind schon erlebt hatte: Meine Älteren hatten mich nämlich als Baby auch schon geliebt, bevor ich etwas geleistet hatte. Hätte meine Mutter mich sonst neun Monate lang in sich herumgetragen, mich schliesslich in die Welt gesetzt und jahrelang umsorgt? Wäre ich noch am Leben?
Der biblische und reformatorische Zentralsatz von der «Rechtfertigung allein aus Gnade» hatte zumindest in meinem Fall irgendwie mit der Erfahrung zu tun, dass ich als Kind bedingungslos willkommen geheissen wurde in der Welt.
Und ja: Obwohl meine Älteren nicht sehr fromm waren, haben sie mir doch erzählt, dass es Menschen gibt und Bücher, an die ich mich halten kann, wenn ich gut leben will: Jesus zum Beispiel und die Bibel.
Wäre das vielleicht eine Idee für das Reformationsjubiläum? Dass wir uns alle gemeinsam, über die Grenzen von Konfessionen und Religionen und Nichtreligionen hinweg darauf besinnen, dass wir alle Geborene sind? Geburtliche? Herkünftige? Voller Gestaltungsmacht in vielen verschiedenen guten Traditionen? Frei zu nähren, WAS UNS IMMER SCHON NÄHRT?