30. Sonntag im Jahreskreis 23.10. (Sir 35,15b–17.20–22a; 2 Tim 4,6–8.16–18; Lk 18,9–14)
Schon 1975 stellte Paul Zulehner heraus, dass die Herausforderungen für eine lebensweltorientierte Pastoral im Angesicht des Todes nicht nur in Bezug auf die Sterbenden (und eine ihnen entsprechende Begleitung) liegen, sondern gerade auch in Bezug auf die Hinterbliebenen.1 Hierfür sind unterschiedliche Akzentverschiebungen und Umbrüche in der Sepulkralkultur (als Kultur des Sterbens, des Todes, des Bestattens und des Trauerns) wahr-und ernst zu nehmen. Als massgeblich hierfür erweisen sich nicht nur die gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse, sondern auch eine Verschiebung in der Erinnerungskultur der Menschen: Der Erinnerungsort fällt (auch für Christinnen und Christen) nicht mehr selbstverständlich mit dem Beerdigungsort zusammen.
Schlaglichter
Es ist eine allgemeine Errungenschaft unserer fortgeschrittenen Moderne, dass das Individuum – aus der namenlosen Masse enthoben – in seiner Würde und mit all seinen Sehnsüchten und Wünschen im Mittelpunkt aller gesellschaftsgestaltenden Kräfte und Instanzen steht. Diese subjekt-und situationsbezogenen Prozesse spiegeln sich auch markant in heutigen Sepulkralkulturen wider. So gibt es ein steigendes Bedürfnis, sich selbst oder geliebten Verstorbenen ein markantes Erinnerungsmoment zu schaffen. Vom Unikat bis zur Exotik reichen daher nicht nur die Angebote von Särgen, Urnen und Mausoleen, sondern auch die Angebote der Beerdigungsorte und Beerdigungsformen (wie etwa die Weltallbestattung des "Schöpfers" von "Star Trek", Gene Roddenberry). Zudem zeigt sich, dass eine wachsende Zahl von Hinterbliebenen (und Menschen, die vor ihrem Tod ihre Beerdigung regeln) keinen Wert auf religiöse oder religionsnahe Bestattungsrituale legen und infolgedessen auch in traditionellen Formen der Sepulkralkultur (inklusive langjähriger Grabpflege) keinen Sinn sehen. Nicht von ungefähr wächst die Zahl anonymer und "ritusfreier" Beerdigungen – ein Phänomen, dessen Gründe nicht nur religiös bedingt sein müssen, auch nicht nur familiar, sondern auch rein ökonomisch (der zum Teil sehr hohen Beerdigungs-und Grabpflegekosten wegen). Weiterhin zeigt sich, dass dort, wo keine Beerdigungspflicht mehr besteht, den Urnen zuhause ein würdiger "Bleibeort" gegeben wird, was den Verzicht auf öffentliche bzw. traditionelle Abschiedsrituale mit sich bringt. Und schliesslich weichen inkulturierte christliche Beerdigungssymbole (wie Kreuz oder Engel) immer mehr charakteristischen Erinnerungszeichen aus der Berufs-bzw. Freizeitwelt der Verstorbenen.
Herausforderungen
Wie bei jeder lebensweltlich orientierten Pastoral stehen Seelsorgende auch in Bezug auf die Sepulkralkulturen vor der Frage eines verantwortbaren Gleichgewichts von Tradition und Innovation. Gerade hierin liegt jedoch die Chance, in der nötigen Sensibilität eine unterschiedliche Begleitung für Sterbende und Hinterbliebene anzubieten, die den Sinn christlicher Pastoral im Angesicht des Todes subjektbezogen durchscheinen lassen, wonach jeder Mensch sich getragen und umfangen erfahren darf von der Hoffnung auf ein unvergängliches Leben in Fülle, in dem sich die Individualität des Menschen nicht aufhebt, sondern von Gott vollendet wird. Selbstverständlich verbietet es der Respekt, Menschen diese Hoffnung aufzudrängen. Sie darf jedoch auch nicht verdeckt werden, zumal sie das innerste Moment christlicher Beerdigungs-und Erinnerungskultur darstellt. Eine solche neue Form der Begleitung bietet z. B. die "pastorale des funérailles et du deuil" im Kanton Fribourg an. Die Beerdigungs-und Trauerpastoral liegt hier in erster Linie in den Händen von dafür ausgebildeten ehrenamtlichen Frauen und Männern. Sie begleiten nicht nur die Hinterbliebenen in ihren Trauerprozessen vor und nach der Beerdigung, sondern entlasten sie auch in organisatorischen Fragen. Eine weitere Chance findet sich weiterhin dort, wo dies örtlich, zeitlich und personell möglich und von Hinterbliebenen gewünscht ist, die Einheit von Bestattung und Eucharistiefeier (Requiem) zu wahren und die ganze Fülle der Erfahrungsdichte des christlichen Paschamysteriums als "Hoffnungsfeier" zu nutzen. Hierfür sollten dort geeignete Räume geschaffen werden, wo sich eine Kirche in grosser räumlicher Distanz zum Beerdigungsort befindet. Wo dies nicht möglich oder gewünscht ist, sollte das gottesdienstliche Gedächtnis der Verstorbenen einen festen und unverrückbaren Platz im liturgischen Leben der Pfarrei oder des Pastoralraums bekommen – auch wenn daran keine Hinterbliebenen teilnehmen können oder wollen. Gerade in einer solchen Praxis der "Stellvertretung" würde die christliche Gemeinschaft für die Hoffnung eintreten, aus der heraus sie lebt – auch für diejenigen Verstorbenen, die einen anonymen Bestattungsweg wählen. Die (teilweise) Umwidmung von Kirchen zu Columbarien eröffnet hier weitere Denkwege. Undenkbar sollte die schon übliche Praxis bleiben, dass sich die Kirche dem Moment der Grablegung entzieht und die Hinterbliebenen am Grab sich allein überlässt. Wenn die Kirche nach neuen Inkulturationsformen ihrer Hoffnung sucht, sollte sie schliesslich auch den Erinnerungsorten gerecht werden, an denen Hinterbliebene ihre emotionale Verbindung zu den Verstorbenen aufrechterhalten, die aber nicht unbedingt mit dem Beerdigungsort zusammenfallen. Dieses weite Feld stellt eine neue Herausforderung dar, die der "pastoralen Faustregel" folgen sollte, "dass zunächst jene Gelegenheiten aufzugreifen sind, in denen sich die Menschen von sich aus an die Kirche wenden, bevor darüber hinaus neue Begegnungsmöglichkeiten gesucht werden"2 – um der Menschen und Gottes willen.