Mehr Rock ’n’ Roll, weniger Bachkantate

Über die Reformation existieren Tausende von Publikationen. Swissbib listet für den Suchbegriff fast 40 000 Einträge auf.1 Längst ist nicht alles zum Thema gesagt. Noch fehlt ein gemeinsames Narrativ der beiden Konfessionen.2 Dieses könnte der Ökumene jenseits der theologischen und institutionellen Fragen neue Anstösse geben. Grundsätzlich braucht es in der Reformationsgeschichte mehr Rock ’n’ Roll und weniger Bachkantate. Das zeigt ein Blick auf St. Gallen.

Das bedauerlichste Resultat der Reformation war die Konfessionalisierung, die zur Verengung der praktisch gelebten Religion und zur Verringerung der Religionsfreiheit in den abgesteckten politischen Räumen führte. Das war die Kehrseite des Prinzips «cuius regio, eius religio». Reformierte und Katholiken haben dazu seit der Mitte des 16. Jahrhunderts und bis in die jüngere Vergangenheit gleichermassen beigetragen. Die Konfessionalität ist denn auch das auffallendste Merkmal dieser Geschichtsschreibung – eine Folge von 500 Jahren Trennung und Profilierungsbedarf.

Bachkantate – Selbstvergewisserung

Qualitativ hat die reformierte Seite wohl die Nase vorn. Ihre Darstellungen gleichen Bachkantaten. Sie pflegen einen schönen melodischen Duktus, sind technisch auf hohem Stand und schreiten mit dem Mittel der Variation voran über die von den Reformatoren vorgegebenen Grundthemen. Die Bewegung des neuen Glaubens erscheint folgerichtig, fortschrittlich und als wichtige Grundlagen für die moderne Gesellschaft und die heutige demokratische Schweiz. Als ob es in den katholischen Orten und in Italien, Frankreich, Spanien oder Österreich keinen Fortschritt gegeben hätte. Überraschend ausgiebig gepflegt wird der Personenkult: Zwingli, Calvin, Vadian. Die drei werden von vorne und gut geschminkt dargestellt, selten von der Seite oder gar von hinten. Leider sind neuere Darstellungen nicht frei davon.3 Quellenmässig gibt es gelegentlich etwas Schlagseite, das ist aber auch die Schuld der katholischen Gegenseite, die weniger aufgeschrieben hat. Die Erzählung der «Altgläubigen» wirkt wie ein Kontrapunkt zur protestantischen Hauptmelodie. Er setzt später ein und umspielt die bereits Volksgut gewordene reformierte Melodie. Einige Akzente haben katholische Historiker zwar gesetzt, etwa Hubert Jedin, der die Kontinuität zum Spätmittelalter und eine Neubewertung der katholischen Reform in die Diskussion einbrachte. Dennoch fehlt im Vergleich mit dem reformierten Pendant insgesamt die Durchschlagskraft. Die Reformatoren setzten von Anfang an auf das gedruckte Wort. Dadurch kamen sie früh in den Besitz der Deutungshoheit. Ihre Nachfolger entwickelten die ihnen hinterlassenen Meistererzählungen – in St. Gallen etwa von Johannes Kessler und Vadian – weiter und verfestigten dadurch das evangelische Selbstbild. Selbstvergewisserung, nicht kritische Reflexion, war das Hauptziel. Dunkle Kapitel wie die Unterdrückung der Täufer oder die gewaltsame Auflösung von Klöstern wurden so als der Not geschuldet dargestellt, gerechtfertigt durch den höheren Nutzen einer nicht nur kirchlich, sondern auch sonst erneuerten Gesellschaft. Ganz falsch ist das zwar nicht, aber eben auch nicht ganz richtig.

Mehr Rock ’n’ Roll

In Wahrheit passt der Rock ’n’ Roll besser zur Reformation als die Bachkantate. Sie war ein umstürzender Prozess, in dem es beileibe nicht nur um hehre Ziele ging. Es gab Konstantes und Aufrichtiges, aber die Stimmung der Zeit war aufgeladen und revolutionär. Sie verleitete zu Übertreibung, Gewalt und Machtmissbrauch. Die Ereignisse trieben vorwärts, und die Religion war bald gar nicht mehr der wichtigste Motor. Nach Katastrophen von Pest, Hunger und dem Zerfall des feudalen Systems, dem Aufschwung der Geldwirtschaft und der Erfindung des Buchdrucks war vieles aufgestaut und in Frage gestellt. Die Reformatoren und ihre politischen Verbündeten versuchten, die Gunst der Stunde zu nutzen, um die Welt zu verbessern, aber auch um ihre Interessen durchzusetzen. St. Gallen zeigt sich als interessantes Paradigma. Hier ist im Hinblick auf die Ausarbeitung der wünschbaren gemeinsamen Erzählung der Konfessionen in den letzten Jahrzehnten viel geschehen. Die Impulse kamen von Paul Staerkle, Marianne und Frank Jehle, Alfred Ehrensperger und Rudolf Gamper. Die Beschäftigung mit ihrem Blick auf die Geschichte macht deutlich, dass es gar nicht so zentral ist, sofort Einheitlichkeit in der Darstellung und im Urteil zu erreichen.4 Wichtiger ist, Sensibilität für die Problemzonen zu entwickeln, den Blickwinkel des andern verständnis- und lustvoll einzunehmen und zu bedenken, was das Wesentliche ist. Dazu sollte man den Humor als befreiende Kraft nehmen.

Katastrophen und Lebenshunger

Der Variantenvorschlag für die st. gallische Reformation ist als Beitrag zu dieser offenen Diskussion gedacht: Wie viele Städte wurde auch St. Gallen in den zwei Jahrhunderten vor der Reformation von Pest (letztmals 1519) und Hungersnöten heimgesucht. Andererseits waren die Menschen auch voller Lebenshunger. Beidseits, in Kloster und Stadt. Das Kloster wirkte als bestimmende alte Macht mit einer grossen Geschichte. Es war von Abt Ulrich Rösch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Territorialstaat hergerichtet worden. Die Stadt dagegen, mittelgross und ohne Hinterland, war wirtschaftlich agiler. Sie sehnte sich nach vollständiger Emanzipation. Kloster und Stadt bildeten eine zerrüttete Zwangsgemeinschaft. Das hatten schon die Appenzellerkriege (1401–1429) und dann auch der Rorschacher Klosterbruch (1489) gezeigt. Schon im 15. Jahrhundert hatten kirchliche Reformbewegungen gewirkt. Sowohl im benediktinischen Galluskloster als auch im dominikanischen Frauenkloster St. Katharinen, den beiden führenden geistlichen Institutionen in der Stadt, war das geistliche Leben erneuert worden. Der Abt hatte 1513 die Seligsprechung von Notker Balbulus erreicht. St. Katharinen blühte als vorbildliche weiblich-monastische Stätte. In der Volksfrömmigkeit gab es kaum Auswüchse. Die Wallfahrt zur Lieben Frau am Gatter im Münster war ruhig, der Ablasshandel in der Eidgenossenschaft kein Ärgernis mehr, nachdem der päpstliche Ablassprediger Bernhardin Samson 1519 ausgewiesen worden war. Rein religiös gesehen war eine Reformation wohl nicht absolut zwingend.

Die Stadt handelt

Trotzdem geschah es, weil die Stadt durch den Klosterstaat und die Person Vadians blockiert war. Er wollte die religiöse Bewegung in Absprache mit Zürich nutzen, um die Stadt endgültig vom Kloster zu emanzipieren. Das Problem war, dass er Kräfte entfesselte, die er nicht kontrollieren konnte: die Täufer als fundamentalistische Herausforderung, die Zürcher, die bei der ersten Gelegenheit ins Fürstenland einmarschierten, das Gleichgewicht in der Eidgenossenschaft, die durch die Ereignisse in den Krieg getrieben wurde, schliesslich die Lebensfähigkeit der Abtei, die sich letztlich als vitaler erwies als erwartet. Der körperliche Zusammenbruch Vadians am 14. November 1531 an der Konferenz von Bremgarten zeigt, dass auch ein robuster Typ an seine Grenzen stiess.

Die Fürstabtei in der Defensive

Die Fürstabtei war bis zum Zweiten Kappelerkrieg im Oktober 1531 in der Defensive. Hier bleiben Fragen: Warum war sie so passiv? War es das Alter von Abt Franz Gaisberg, der 1529 starb, oder der Versuch, den Konflikt einfach auszusitzen, oder liessen die Machtverhältnisse mehr schlicht nicht zu? Entschied sich etwa alles in den Schirmorten, und beide St. Gallen waren nur Spielbälle? Gewaltsame Umwälzungen erachten wir heute als besonders verwerflich, wenn sie mit der Zerstörung kulturellen Erbes einhergehen. In der Reformation ist das in grossem Umfang geschehen. Es gab verschiedene Typen von Bilderstürmen: solche im eigenen Haus, solche in fremden Häusern und kriegerische in fremden Staaten. Alle drei sind in St. Gallen vorgekommen. Dem heutigen Weltkulturerbe, Bibliothek, Archiv und Domschatz sind so schmerzliche Verluste entstanden. Im Domschatz sind fast keine mittelalterlichen Stücke mehr erhalten.

Drei kleine Inputs

Zweifellos gibt es auch noch Verbesserungspotenzial in der lokalen und allgemeinen Darstellung. Hier drei Beispiele:

Der sogenannte «Verkauf» des Klosterbezirks durch Zürich und Glarus an die Stadt St. Gallen vom 23. August 1530 wird oft wie ein rechtlich konformer Vorgang dargestellt. Das war aber nicht der Fall. Weder besassen Zürich und Glarus das Kloster, noch hatten die katholischen Schirmorte Luzern und Schwyz zugestimmt. «Verkauf» muss mindestens in Anführungszeichen gesetzt werden. Es war eben eine rockige Zeit.

Vadian wird gerne als «Retter» der Stiftsbibliothek St. Gallen bezeichnet. Man muss dabei allerdings bedenken, dass gerade er es war, der das Kloster am 23. Februar 1529 für den Bildersturm freigab und in den darauffolgenden Gewaltausbrüchen zwar die Bibliothek, nicht aber die Kirchenbibliothek und auch nicht das Archiv schützte. Das Wort «Retter» trifft deshalb die Wahrheit nicht.

Wenn wir die Theologie der Renaissance kritisieren, sollten wir nicht vergessen, dass sie uns heute in ihrer Liberalität wohl nähersteht als die doch etwas enge Sicht der Reformatoren, die dann im barocken Katholizismus bis hin zum Antimodernismus gespiegelt wurde. Eine gewisse Versöhnung mit der mittelalterlichen Kirche und mit dem liberalen Drang jener Zeit wäre hilfreich auf dem Weg zu einer gemeinsamen Geschichte.

Sich näherkommen

In einem Interview zum Reformationsjubiläum hat Gottfried Locher, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, für die Reformatoren Calvin, Zwingli und Luther in Anspruch genommen, dass sie «die Idee der persönlichen Verantwortung und der persönlichen Freiheit, die Idee, dass die Menschen alle gleich sind vor Gott» in die Schweiz gebracht hätten.5 Das ist keine Erfindung der Reformatoren. Diese Werte gehörten von Anfang an zum Grundbestand der christlichen Konfessionen. Wenn man das bedenkt und wenn man die Reformation als Rock ’n’ Roll versteht, kommt man nicht nur der Sache, sondern auch der Gegenseite etwas näher.

 

 

1 Suchabfrage «Reformation» auf Swissbib, https://www.swissbib.ch/ 10. Januar 2017.

2 Die ökumenische Kirchengeschichte schreibt im Fall der Reformation eine milde Form der konfessionellen Geschichtsschreibung fort. Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, hrsg. von Lukas Vischer, Lukas Schenker und Rudolf Dellsperger, Freiburg und Basel 1994, Teil 2, S. 101–206.

3 Peter Opitz, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015; Franz Rueb, Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt, Baden 2016.

4 Martin Kaufmann bemerkt in seiner Monografie zur Reformation, dass die wissenschaftlichen Diskussionen zur Reformation im letzten Vierteljahrhundert «disparater sind und eine weitaus geringere thematische Konzentration aufweisen als die Debatten davor». Martin Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016, S. 420.

5 Lutherjahr wird auch im Land von Calvin und Zwingli begangen, SRF News, 3. November 2016.

Cornel Dora | © Stiftsbibliothek St. Gallen

Cornel Dora

Dr. phil. Cornel Dora ist Stiftsbibliothekar in St. Gallen. Ihm liegt an der Suche nach der gemeinsamen Reformationsgeschichte.