Wenn Novalis schreibt, dass er Maria in tausend Bildern sehe, doch keines seine Seelenempfindung ausdrücken könne, trifft für mich diese Aussage auch auf Maria aus Magdala zu. Schon die mittelalterliche «Legenda Aurea» beschreibt sie als vielschichtige Heilige, die von Jesus geheilt, seine vertrauteste Freundin, Gastgeberin und Wegbegleiterin bis zum Kreuz wurde. Ihre Verbindung sei so innig gewesen, dass Jesus seine Tränen nicht zurückhalten konnte, wenn seine Freundin weinte. Auch hätten ihre Lippen, die die Füsse des Erlösers küssten, den Wohlgeruch Gottes verströmt und die Frohbotschaft auf eindrückliche Weise verkündet. Traditionsgemäss setzt Jacobus von Voragine Maria von Magdala mit der salbenden Frau aus dem Lukasevangelium gleich, doch übernimmt er nicht die übliche Praxis ihrer Abwertung. Dennoch erfuhr ich erst im Theologiestudium, dass die Patronin der «gefallenen Mädchen», die in Magdalenenheimen umerzogen wurden, im Neuen Testament als «Apostola apostolorum» beschrieben wird. Das liess mich an meiner kirchlichen Bildung zweifeln, die starke Frauen der Jesusbewegung totgeschwiegen hatte.
Auch wenn mir bewusst ist, dass Maria von Magdala in der Ikonografie eine von der «Legenda Aurea» geprägte Kunstfigur ist, bin ich dankbar, dass ich früh die Bilder von Giotto, Fra Angelico und Martin Schongauer sehen durfte, in denen die Begegnung des Auferstandenen mit Maria von Magdala als das Wiedersehen zweier Liebender dargestellt wird, die ihre Hände suchend ausstrecken. Jesus mutet Maria, die ihren Rabbuni ergreifen möchte, um zu begreifen, dass er gegenwärtig ist, den Verzicht auf Berührung zu. Er ist sich ihrer Liebe und Mitleidenschaft sicher und weist sie mit liebevoller Zuwendung an, als Kronzeugin der Auferstehung Botin des neuen Lebens zu werden. Auch bei der Beweinung Christi von Niccolò dell’Arca von 1463 berührt Maria von Magdala Jesus nicht. Als lebensgrosse Terrakottafigur eilt sie in wehenden Kleidern und schmerzverzerrtem Gesicht zum Verstorbenen. Wirklichkeitsgetreu stellt hier der Künstler eine Frau dar, der durch den Tod das Liebste entrissen wurde. Berührend ist auch die um 1515 von einem unbekannten Künstler geschaffene Maria Magdalena im Palazzo Madama in Turin. Weinend kniet sie beim Leichnam Jesu, umfängt und küsst seine Hand. Die zärtliche Geste der Hingabe erinnert mich an die Matthäus-Passion von J. S. Bach, in der Jesus seine Jünger anweist, die Liebestat der salbenden Frau nicht in den Schmutz zu ziehen. Auch wenn ich froh bin, dass der Vatikan Maria von Magdala nun als Apostolin anerkennt, bin ich auch dankbar für religiöse Kunstwerke, in denen die Sehnsucht nach körperlicher Berührung und der Schmerz um die Verletzlichkeit des Leibes aufscheinen. Da es von Luther die Aussage gibt, dass Gott ein glühender Backofen voller Liebe sei, steht die Frage im Raum, wie kirchlich Beauftragte das «noli me tangere» integrieren und dennoch die Zärtlichkeit und den Duft Gottes in die Welt tragen können.
Monika Bauer*