Aufmerksamkeit definieren wir gemeinhin so, dass wir Menschen willentlich unser Bewusstsein auf etwas lenken und dies festhalten. Da unser Bewusstsein aber beschränkte Ressourcen hat, müssen wir die Ziele unserer Aufmerksamkeit auswählen. Was bedeutet das – für uns als Einzelpersonen, als Gesellschaft, als Christinnen und Christen?
In meinem familiären Umfeld habe ich seit Jahren mit verschiedenen Spielarten des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms kombiniert mit Hyperaktivität (ADHS) zu tun. In der Regel wird ADHS bei Kindern festgestellt, die sich leicht ablenken lassen, nicht zuhören und Mühe haben, an einer Sache dranzubleiben. Erwachsene, die sich mit einer solchen Diagnose auseinandersetzen, berichten oft, wie schwer es ihnen fällt, das ständige Gedankenkarussell zu stoppen oder plötzliche Wutausbrüche zu bändigen. Ein guter Umgang mit ADHS hingegen ermöglicht es, liebevoller mit sich umgehen und die eigenen Gefühle deutlicher wahrzunehmen. Aufmerksamkeit aufzubringen ist demnach ein wichtiger Faktor für das persönliche Wohlbefinden.
Was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, bestimmen gesellschaftliche Leitideen. Die letzten Jahre haben überdeutlich vor Augen geführt, wie mangelnde Aufmerksamkeit in Form von Nicht-Hinschauen oder Nicht-Wissen-Wollen auftritt: So haben Historikerinnen und Historiker anhand von Quellen nachgewiesen, dass fast alle Probleme des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche bereits im 17. und 18. Jahrhundert bekannt waren. Dieses Wissen hatte aber keine Konsequenzen. «Schaut doch hin!» lautet die Forderung, wenn wir heute über Vernachlässigung, Vereinsamung und Gewalt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft hören. Aber staatsbürgerlich legitime Aufmerksamkeit, echtes Interesse am Gegenüber und detektivisches Misstrauen lassen sich mitunter schwer voneinander abgrenzen. Und in einigen Jahren werden wir wohl Rede und Antwort stehen müssen über vieles, was wir heute ignorieren oder bagatellisieren.
In der Bibel zeigt sich ein interessantes Bild: Da ist zunächst die Aufmerksamkeit Gottes gegenüber dem Menschen im Alten Testament. Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård schreibt über seine Erfahrungen bei der Neuübersetzung der norwegischen Bibel: «Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Gott echtes Interesse an den Menschen hatte», denn «schon der nichtigste Anlass reichte aus, um ihn sich zeigen und zu den Menschen sprechen zu lassen». Jesus hingegen scheint nicht der aufmerksamste Zeitgenosse gewesen zu sein. Häufig ist er mit etwas anderem beschäftigt, wenn die Aussenwelt in Gestalt eines blinden Bettlers oder einer kranken Frau über ihn hereinbricht. Manchmal braucht es zweimalige Ansprachen, laute Worte und Berührungen, um Jesus Aufmerksamkeit abzuringen. Und doch mahnt er in drei Gleichnissen zu Wachsamkeit. Aufmerksamkeit ist das Werkzeug, die Treue zum wiederkehrenden Christus zu bewahren. «Jemand muss wachen», schreibt Silja Walter im «Gebet des Klosters am Rande der Stadt», denn: «Wer weiss denn, wann du kommst?»
Ann-Katrin Gässlein*