Als einzige Europäerinnen und Europäer leben die Menschen in der Schweiz heute noch in einer «48er-Republik», d. h. in einem jener Staaten, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus den damals dominierenden weltanschaulichen Richtungskämpfen hervorgegangen sind. Der Weg dahin war bestimmt von oft turbulenten Herrschaftswechseln, am Ende gar von einem Bürgerkrieg. Dem katholischen Bevölkerungsteil kam in den Prozessen ein entscheidender Anteil zu: Seine Ausrichtung beeinflusste das Geschehen, und die Ergebnisse sollten das gemeinsame Schicksal auf Generationen hinaus prägen.
Gezeichnet von den Folgen der Revolution
Der Untergang des Ancien Régime in der Französischen Revolution zog auf der katholischen Seite das kirchliche Leben dramatisch in Mitleidenschaft: ein bedeutender Teil der Klöster und Bistümer wurde enteignet und aufgehoben, die Abschaffung der Zehnten beraubte die Geistlichen wichtiger Einkünfte und Wallfahrten, Bittgänge sowie andere liturgische Aktivitäten erfuhren enge Beschränkungen. Politisch war der Weg zum modernen Bürgerstaat bestimmt vom Gegeneinander zweier weltanschaulich unterschiedlich orientierter Pole: Auf der einen Seite standen die Erbinnen und Erben der Aufklärung, welche einen Einheitsstaat nach dem Vorbild der Französischen Republik anstrebten. Ihr Ideal war ein Gemeinwesen, bestehend aus gleich Geborenen und gleich Berechtigten, in welchem die Tüchtigsten die Herrschaft innehatten und in dem das öffentliche Leben in allen Bereichen einheitlich aus einer (staatlichen) Hand geregelt war. Ihnen gegenüber standen die Reaktionären, die der Gesellschaftsordnung des Ancien Régime verpflichtet waren. Sie lehnten die neue Ordnung ab und gewannen ihre Gefolgschaft auf der katholischen Seite insbesondere mit dem Hinweis auf die beträchtlichen Schäden, welche die Religion und die Kirche erlitten hatten.
Die Verfassungsgeschichte der Schweiz zwischen 1798 und 1848 lässt sich darstellen als Kampf der beiden Lager um die Vorherrschaft. Die Exponenten der katholischen Kirche stellten sich früh schon auf die Seite der Gegenaufklärer. Ihre stärkste Zeit erlebte diese Gruppe zwischen 1815 und 1831, welche unter der Epochenbezeichnung «Restauration» in Erinnerung ist. In diesen Jahren suspendierten mehrere Kantone liberale Neuordnungen und schränkten etwa die Niederlassungsfreiheit oder die Pressefreiheit wieder ein. Die katholische Kirche profitierte von der Veränderung, denn sie gewann einen Teil der ehemaligen Handlungsfreiheit zurück. Klöstern war es wieder möglich, Novizen aufzunehmen und neue Niederlassungen zu gründen. Auch die dringend notwendige Neuorganisation der Bistümer liess sich an die Hand nehmen, und zwar im Kooperation mit der Römischen Kurie. Einzig in dieser Zeit war es möglich, einvernehmliche Regelungen zu finden, und es wurden Konkordate geschlossen: 1823 für das Bistum St. Gallen, 1824 für den Kanton Schwyz und 1828 für das Bistum Basel.
1830 als Schicksalsjahr
Neuen Auftrieb verschaffte den liberalen Bewegungen in mehreren Ländern Europas die Pariser Julirevolution – unter anderem auch in der Schweiz. Innerhalb kurzer Zeit gaben sich elf Kantone liberale Verfassungen. Auf diese Weise kamen jene Kräfte an die Macht, welche die Kirchen wie andere öffentliche Anstalten in die staatliche Ordnung eingliedern und kontrollieren wollten. Sie fanden sogleich ihren kirchenpolitischen Niederschlag: Verhandlungen betreffend Zugehörigkeit der noch nicht in ein Bistum eingegliederten Gebiete kamen zum Erliegen. Zürich, Uri, Ob- und Nidwalden blieben in der Folge lediglich provisorisch unter Churer Verwaltung – ein Zustand, der bis heute andauert.
In den liberal gewordenen Kantonen nahmen die Regierungen verstärkt Einfluss auf Angelegenheiten, die bis dahin in die alleinige kirchliche Zuständigkeit gefallen waren. Konsequenz war eine Reihe von Konflikten zwischen kirchlichen und staatlichen Behörden, welche jeweils rasch Weiterungen nahmen und grosses Aufsehen erregten: In Wohlenschwil stritten die Kantonsregierung und der Pfarrer Anfang 1832 um eine kirchliche Ehedispens, im Jura kam es zum Streit um den geforderten Verfassungseid, gegen den sich Geistliche mit Hilfe der Römischen Kurie zur Wehr setzten. 1833 zog sich der Rapperswiler Geistliche Alois Fuchs eine Kirchenstrafe zu, weil er im liberalen Geist gegen die bestehende kirchliche Ordnung predigte und sich für ein liberales Reformprogramm stark machte. Das Ereignis zog weite Kreise: Als die Luzerner Regierung im Jahr darauf einen von dessen Verteidigern als Professor an die Höhere Lehranstalt berief, erging dagegen ein bischöfliches Veto. Als Reaktion schloss die Regierung die theologische Abteilung für mehrere Monate.
Um die Lage in ihrem Sinne zu beruhigen und in den Griff zu bekommen, strebten die liberalen Regierungen des Basler Bistumskonkordates nach einer gemeinsamen, umfassenden Regelung kirchlicher Angelegenheiten. In einer Sonderkonferenz Anfang 1834 verständigten sich Delegationen aus den Kantonen Luzern, Bern, Aargau, Solothurn, Baselland, Thurgau und St. Gallen auf ein 14 Punkte umfassendes kirchenpolitisches Programm, die «Badener Artikel». Vorgesehen waren staatliche Regelungen zum Ehewesen, zu den Pfarrwahlen sowie zur Aufsicht über Klöster und Priesterseminarien. Selbst die Kommunikation der Bischöfe sollte einer strengen Kontrolle unterworfen werden: Jeder Hirtenbrief und jede andere Verlautbarung benötigte eine staatliche Publikationsbewilligung. Um auch das Kirchenwesen «national» zu konstituieren und Eigenständigkeit gegenüber der Römischen Kurie zu erreichen, sollte eine Schweizer Kirchenprovinz geschaffen und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet werden.
Auftakt zum Kulturkampf
Die Polarisierung der dreissiger Jahre lässt sich für die Schweiz im Rückblick verstehen als Auftakt zu den Kulturkämpfen, welche im Gefolge des Ersten Vatikanischen Konzils ausbrechen sollten. Die weltanschaulichen und kirchenpolitischen Grenzlinien, welche nach 1870 die Lager teilten und zu den grossen Brüchen führten, manifestierten sich erstmals in der Regenerationszeit. Über alle Jahrzehnte hinweg standen die gleichen politischen Parteien und die gleichen gesellschaftlichen Kräfte gegeneinander, und es wurde durchgehend über die gleichen Fragen gestritten.
Auf kirchlicher Seite wirkte dies umso einschneidender, als sich die weltanschauliche Polarisierung analog auch innerhalb der Kirche ausbildete. Auch hier gab es seit dem 18. Jahrhundert einen Gegensatz zwischen aufgeklärt und gegen-aufgeklärt Gesinnten. Obwohl die bedrückenden Erfahrungen der Revolutionszeit die antiliberalen Kräfte stärkten, gab es auch weit über die Jahrhundertwende hinaus einen dezidiert liberalen Katholizismus. Die entscheidende Gewichtsverlagerung auf die ultramontane Seite hin erfolgte ebenfalls in den dreissiger Jahren. Zum Programm machte die Neuausrichtung Papst Gregor XVI. (1831–1846) mit der Enzyklika «Mirari vos» vom 15. August 1832. Sie enthielt eine entschiedene Absage an innerkirchlich liberale Forderungen wie Trennung von Staat und Kirche, Anerkennung von Glaubens- und Gewissensfreiheit oder auch der Volkssouveränität.
In der katholischen Schweiz war die weltanschauliche Polarisierung der dreissiger Jahre gleichsam doppelt befestigt: Auf der einen Seite waren die Regierungen der Regenerationskantone entschlossen, die als «nationale» Institution zu gestaltende katholische Kirche einer umfassenden Aufsicht zu unterwerfen. Auf der anderen Seite begann innerkirchlich die ultramontane Seite ihren singulären Siegeszug. Vor diesem doppelten Hintergrund entstand in Luzern 1831 jener «Katholische Verein», der ab dem darauf folgenden Jahr die «Schweizerische Kirchen-Zeitung» publizierte. Sie wirkte lange Zeit als entschlossen ultramontanes Kampforgan, das es möglich machte, dem liberalen Kirchenregiment lautstark entgegenzutreten.
Markus Ries