Das Ziel einer modernen verfassten Kirche muss meiner Meinung nach sein, die Menschen zu sammeln, die sich in die Nachfolge Jesu stellen, und sie in die Welt zu senden. Diese Formulierung ist im evangelischen Umfeld nicht unbestritten. Denn die evangelischen Volkskirchen hatten als Staatskirchen einen ganz anderen Auftrag. Nicht das Sammeln war ihre Aufgabe, sondern die richtige Lehre zu verkünden und die Sakramente richtig zu verwalten. Diese Funktionen wies ihr der Staat zu. Für diese beiden Dienste liess er Männer und ab 1918 auch Frauen ordinieren. Bis heute ist die Pfarrausbildung darauf fokussiert, Lehrer und Seelsorger bzw. Sakramentenverwalter auszubilden. Darum sind die reformierten Kirchen heute etwas einseitig als Lehr- und Seelsorgekirchen ausgerichtet. Doch nur ein Teil derer, die Jesus nachfolgen wollen, lassen sich durch Lehre oder gute Seelsorge ansprechen.
Der Epheserbrief sieht für eine funktionierende Gemeinde fünf gleichberechtigte Dienste nebeneinander vor: Aposteldienst (Management), Lehrerdienst (Lehre), Hirtendienst (Seelsorge), Prophetendienst (Fürsorge) und Evangelistendienst (Mission und Marketing). Dazu ist zu sagen, dass von diesen fünf Diensten die Kantonsregierungen seit der Reformation deren drei übernahmen: Aposteldienst (Management), Prophetendienst (Sozial-, Flüchtlings- und Krankenwesen) und Evangelistendienst (Mission und Marketing). In den letzten 100 Jahren zogen sie sich aber nach und nach aus der Kirchenleitung zurück. Seither liegen Aposteldienst und Evangelistendienst mehr oder weniger brach. Diese Dienste sind zum Teil stillschweigend vom Pfarramt aufgesogen worden. Aber keine Einzelperson kann fünf Dienste gleich stark abdecken. Die bestehende Kultur der verfassten Kirche sowie die Fokusse der Ausbildung fördern einseitig Pfarrpersonen, die ihre Stärke im Lehrer- oder Seelsorgedienst haben. Weil sie in der Gemeinde- und Kirchenleitung dann dominant sind, werden Management- und Marketing-Missionskompetenzen in den Gemeinde- und Kirchenleitungen vernachlässigt. Das führt zu einer relativen Monokultur dessen, was als protestantisch volkskirchlich gilt.
Der Kirchenrat der reformierten Basler Kirche arbeitet seit zwölf Jahren intensiv daran, die Gemeinden und einzelnen Gottesdienstorte darin zu unterstützen, ihre Blickfelder zu weiten. Er ermutigt dazu, Kirchenleitung auf mehr Schultern und mehr Dienste zu verteilen. Weitere Beauftragungen sind nötig. Management, Mission, Seelsorge, Lehre und Fürsorge sind je gleich stark und mit derselben Macht in die Gemeindeleitung zu integrieren. Nicht alle von ihnen müssen Angestellte der Kirche sein, denn wenn nicht nur die Arbeit, sondern auch die Verantwortung und die Mitbestimmung verteilt werden, sind auch Freiwillige und Ehrenamtliche hoch motiviert, mitzuarbeiten. Nicht alle Gemeinden sollen Lehr- oder Seelsorgegemeinden sein, es kann auch diakonische Gemeinden und stark öffentlichkeitswirksam missionarische Gemeinden geben. Das Potenzial an Diversifizierungen ist auch in unserer kleinen Basler Kirche noch lange nicht ausgeschöpft. Zudem sollen nicht alle dasselbe Milieu erreichen, und zugleich müssen nicht alle alle Milieus erreichen. Man kann sich unter den Gemeinden absprechen, welche Milieus wo angesprochen werden können. Das braucht Mut und Zuversicht. Aber es ist möglich. Und es gelingt.
Kirche ist nicht für sich selbst da. Sie ist Kirche für die Welt. Sie soll ein Zeichen sein, und Christen haben von ihren Hoffnungen Zeugnis zu geben. Das ist Mission.
Der verbrauchte Begriff Mission ist zu reinigen, denn wir können nicht auf ihn verzichten. Die Muttersprache der Gegenwart ist nicht mehr das Christentum. Unterricht, Beerdigungen, Hochzeiten, Feiertage und Konzerte sind christliche Sprache in eine säkulare Welt hinein. Sie sind Mission. Mission kann noch mehr als das sein. Sie kann ästhetisch vielfältiger sein als heute. Sie darf auch expliziter sein, solange sie ein Lebensangebot und nicht einen Lebenszwang bedeutet. Dabei geht es nicht um Profilierung. Unser Ziel sind nicht «Profilgemeinden». Die mittelalterliche Kunst malte die Bösewichte meist im Profil, die Guten malte sie frontal. Die Statistik errechnet mein Profil und dieses entscheidet darüber, welches Risiko ich für die Gesellschaft bedeute, zum Beispiel in der Altersvorsorge. Wir wollen Christen sammeln, die ihr Antlitz zeigen, wir wollen Gemeinden, die Gesichter haben. Profilierung züchtet Konkurrenz und Illoyalität. Das sichtbare Angesicht fördert das Miteinander. Es ist die Grundlage für die Weitergabe der Anerkennung, die wir von Gott her erfahren. Wer bereit ist, sein Gesicht zu zeigen, erlebt auch Unerwartetes, auch finanziell Überraschendes, zum Beispiel eine plötzliche relative Unabhängigkeit von der Kirchensteuer. Unsere Kirche ist heute bis zu 30 Prozent unabhängig von den Kirchensteuereinnahmen. Bis zu einem Drittel aller unserer Dienste wird aus Spendengeldern finanziert, die zusätzlich zu den Kirchensteuereinnahmen fliessen. Das ist erheblich. Unser Ziel ist, bis 2025 den Anteil der Spenden auf 50 Prozent der Gesamteinnahmen zu erhöhen: zwölf Millionen Franken Steuereinnahmen, zwölf Millionen Franken Spenden. Das kann erreicht werden. Man muss sich aber genügend Zeit geben dafür. Der ganze Prozess dauert bei uns schon bald 30 Jahre, und wir haben dafür in den letzten zwölf Jahren gezielt auch unser ganzes Vermögen investiert.
Die evangelische Kirche in Basel-Stadt wird künftig aus verschiedenen kleineren und grösseren Bewegungen bestehen. Es wird künftig mehr Gemeinden als heute geben (freilich bei weniger Mitgliedern). Unsere Kirche wird ein Bewegungsbündel werden. Ein römisch-katholischer Kollege sagte mir dazu in einem öffentlichen Gespräch in der Elisabethenkirche in Basel, man könne so keine Kirche führen. Das ist wahr. Das funktioniert nicht, wenn es da nicht noch etwas anderes gäbe. Es braucht Versöhnung. Ohne Versöhnung ist das Leben konkurrenz-, angst- und neidbesetzt, auch in der Kirche. Kirchgemeinden, die die Kultur der Abgrenzung zu anderen leben, werden nicht bestehen können. Die Basler Kirchengeschichte zeigt, dass sie verschwinden. Versöhnung ist darum auch kirchenpolitisch eine existenzielle Notwendigkeit.
Kirche ist seit neutestamentlichen Zeiten ein städtisches Phänomen. Die Schweiz ist heute auch in ihren ländlichen Gebieten städtisch. Darum wird sich auch auf dem Land die reformierte Kirche mehr und mehr zu einem Bündel von verschiedenen Bewegungen entwickeln. Die geplanten Grossgemeinden, fusioniert aus vielen kleinen, werden geistlich, ästhetisch und inhaltlich ein Gesicht erhalten. Sie werden ebenfalls Bewegungen werden, einige vielleicht auch Bewegungsbündel. So werden sie die Kraft gewinnen, Gemeinschaftsarbeit zu leisten und Menschen zu sammeln, die Christus nachfolgen, und sie in die Welt zu senden. Die Klammer um alles aber muss eine geistliche sein, eben Versöhnung. Sie muss von Christus erbeten sein. Dann wird sie auch von ihm geschenkt.
Lukas Kundert