Viele Menschen verbringen einen Teil ihrer Freizeit in den virtuellen Welten von Computerspielen, schlüpfen in andere Rollen, erleben Geschichten, Erfolge und Niederlagen, treffen andere Spielende und tauschen sich mit Freunden aus. Was Gamer (Computerspieler) hingegen kaum tun, ist, die subtileren Botschaften aus den Games aufzudecken und zu reflektieren. Dazu können Katechetinnen und Katecheten motivieren, indem sie Computerspiele als Medium ernst nehmen, Raum für die Expertise der Gamer lassen, aber auch eine Brücke von den Spielinhalten zum alltäglichen Leben und zum christlichen Glauben schlagen.
«Die Sims» – ein Spiel aus dem Alltag
Nehmen wir zum Beispiel die Lebenssimulation-Reihe «Die Sims». Die Sims-Spiele simulieren das Leben in einem westlich-urbanen Mittelstandsmilieu. Die Spielenden steuern einen oder mehrere Mitglieder eines Haushalts, sogenannte «Sims». Sie kümmern sich um deren Bedürfnisse wie Nahrung, Schlaf und Hygiene, lassen sie Geld verdienen, Karriere machen, Hobbys verrichten, die Wohnung ausbauen, Freundschaften pflegen, heiraten und eine Familie gründen. Mit weltweit über 200 Mio. verkauften Spielen und Add-ons1 seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 2000 gehört «Die Sims» zu den erfolgreichsten Game-Franchisen überhaupt. In der Schweiz belegt der vierte und neuste Teil der Reihe seit seiner Erscheinung im Jahr 2014 durchgehend die obersten Ränge der PC-Game-Charts.
Die Sims-Spiele eignen sich für den Religionsunterricht. Sie sind Teil der Jugendkultur, weit verbreitet, leicht zugänglich und frei von Gewaltdarstellungen. Der grosse Bekanntheitsgrad bedeutet, dass sich viele Kinder und Jugendliche mit dem Spiel auskennen und dass im Internet reichlich Informationsmaterial zu finden ist. Die kostenpflichtigen Sims-Spiele gibt es für den PC, den Mac sowie für andere Plattformen. Für eine Spielphase im Unterricht empfiehlt sich «Die Sims»-Mobile, die kostenlose Version für Tablets und Smartphones. Wenn nicht gespielt werden soll, können Spielszenen aus den zahlreichen Sims-Videos auf Youtube gezeigt werden. Die Sims-Spiele bieten mehrere Anknüpfungspunkte für die katechetische Arbeit. Hier möchte ich von einer bestimmten Beobachtung ausgehen: Wie alle Games bestehen die Sims-Spiele aus Regelsystemen, die in Bilder und Texte verpackt sind. Dabei werden realweltliche Phänomene wie Karriere, Zufriedenheit, menschliche Charaktereigenschaften, Freundschaft, Liebe usw. quantifiziert und in Punktesysteme überführt. Durch die Eingaben der Spielerin oder des Spielers werden die einen Punkte algorithmisch – d. h. durch automatisierte Handlungsanweisungen – in andere Punkte transformiert. In «Die Sims»-Mobile bedeutet dies z. B., dass die Liebe meiner Spielfigur zu einem anderen Sim in Levels angezeigt wird. Um die Beziehung zu vertiefen, wähle ich aus vorgefertigten Gesprächsoptionen wie «Sympathie gestehen» oder «über Traumurlaub reden» aus oder starte ein Ereignis wie z. B. «kurzes Treffen» oder «erstes Date im Café», bei dem sich wiederum spezielle Konversationsmöglichkeiten eröffnen. Bei diesen Interaktionen werden Energiepunkte meiner Spielfigur in Beziehungspunkte transformiert. Habe ich genug Beziehungspunkte gesammelt, erreicht das Pärchen das nächste Level. Einen Heiratsantrag kann ich ab Level 4 machen, die Heirat kommt ab Level 7 infrage. Auf dieselbe Weise funktionieren auch andere simulierte Aktivitäten wie Freundschaften, Karrieren und Hobbys.
Gegen Algorithmisierung des Menschen
Die Sims-Spiele zeigen also ein Leben, das von Punkten, Levels und davon abhängigen Optionen geprägt ist. Computerspiele halt, mag man sich nun denken. Doch gerade weil diese Spiele unser Leben simulieren sollen, erscheinen sie wie die Zuspitzung eines Trends, der unseren Alltag längst prägt: die Algorithmisierung. Im Fahrwasser der Digitalisierung und des ökonomischen Gebots der Effizienz- und Leistungssteigerung finden computerisierte und vernetzte Programme Anwendung, die unsere Aktivitäten erfassen, diese in Daten umwandeln, sie auswerten und uns auf dieser Grundlage ein bestimmtes Verhalten nahelegen. Diverse Dienste und Geräte sollen z. B. massgeschneiderte Informationen und Angebote bereitstellen, unsere Bewegung, unseren Fahrstil oder unsere Ernährung optimieren sowie zukünftige Herausforderungen im Verkehrswesen, in der Sicherheit oder der Verteilung von Gütern meistern. Die Algorithmisierung kann aber auch für automatische Disziplinarmassnahmen eingesetzt werden, etwa indem bei Regelverstössen das Fahrzeug gesperrt, Versicherungsprämien erhöht, die Behörden informiert oder der Zugang zu Arbeit, Wohnraum oder Krediten erschwert wird.
Doch die Algorithmisierung schafft nicht nur neue ökonomische und soziale Realitäten. Sie schafft auch ein spezielles Menschenbild. In einer Welt, in der der Erfolg im Berufs- wie auch im Privatleben von Ratings und Rankings abhängt, identifiziert sich auch der Mensch zunehmend mit seinen Punkten und Bewertungen und richtet sein Wahrnehmen, Denken und Handeln an ebensolchen Daten und Indikatoren aus. Die neuen inneren Werte des Menschen sind objektivierte Werte. Sie liegen jederzeit sichtbar vor ihm und treiben ihn zum ständigen Vergleich mit anderen Menschen und zur Selbstoptimierung nach den Regeln der Algorithmen an.
Die Sims-Spiele können als Ausgangspunkt genommen werden, um sich mit den Vorzügen und Auswüchsen der Algorithmisierung auseinanderzusetzen. Angeleitet durch die Lehrperson, entdecken die Kinder und Jugendlichen beispielsweise, dass Punkte und Levels das bestimmende Merkmal der Sims-Spielfiguren sind. Anschliessend könnte über den Sinn oder Unsinn einer Übertragung der Sims-Scores in das echte Leben nachgedacht werden. Welche menschlichen Aspekte sollten oder sollten nicht in Punkte gefasst werden? Dann könnten Beispiele gesucht werden, wo digitalisierte Punktesysteme bereits im Alltagsleben verankert sind und das eigene Handeln prägen. Welche Programme helfen uns, bestimmte Medien zu finden, beim Einkauf Geld zu sparen oder unsere Gesundheit, unsere Attraktivität oder unseren Erfolg zu messen und zu vergleichen? Tun wir dies freiwillig? Was würde es bedeuten, nicht mitzumachen?
Schliesslich zeigen Beispiele wie die minutiöse Überwachung der Arbeitsleistung von Amazon- oder Uber2-Mitarbeitenden, der von der Konzernleitung nahegelegte Einsatz von Fitnesstrackers3 in der Belegschaft von BP oder IBM oder auch das im Aufbau befindliche chinesische Sozialkredit-System, dass die Algorithmisierung und das digitale Scoring normativen Druck erzeugen und zum Ausschluss von Menschen führen können. Dem kann und soll ein christliches Verständnis von Menschsein entgegengehalten werden. Als pointierter Widerspruch formuliert: Der Mensch ist nicht die Summe seiner Scores und Likes, sondern ein nach Gottes Bild geschaffenes Wesen. Er ist keine austauschbare Bedienung von unpersönlichen Algorithmen, sondern Subjekt einer persönlichen Beziehung mit Gott. Seine Gewissheit sucht er nicht im bequemen datengestützten Wissen, sondern im Wagnis des Glaubens. Freiheit bedeutet ihm nicht die Wahl unter zahllosen Optionen, sondern die Versöhnung seines Willens mit dem Willen Gottes. Er lässt sein Verhalten nicht von Algorithmen bestimmen, sondern orientiert sich an herausragenden menschlichen Vorbildern. Erlösung sucht er nicht in der Vollendung seiner Selbstoptimierung, sondern er akzeptiert seine Fehlbarkeit und darf dennoch auf Rechtfertigung hoffen. Sein soziales Engagement gilt nicht dem konkurrierenden «metrischen Wir» (Steffen Mau)4, sondern der Gemeinschaft der Solidarität und der Nächstenliebe.
Oliver Steffen