Das Fremde verstehen und Kirche ermöglichen

Das Fremde verstehen und gleichzeitig kirchliches Leben aufbauen, sind die beiden Bewegungen, die dem Pfingstfest als Herausforderungen eingeschrieben sind. Dass sich dabei Gott dialogfreudig mitteilt und mitwandert, stellt Samuel M. Behloul an den Anfang seiner Gedanken zu Pfingsten.

Der Gott der Bibel ist ein dialogfreudiger Gott, und er liebt es offenbar, seine Heilsgeschichte mit Migranten zu schreiben. In vielfältigster Weise, so heisst es wörtlich im Hebräerbrief, hat Gott durch die Propheten zu unseren Vorfahren gesprochen (Hebr. 1,1). Die Heilsgeschichte, die dieser sich kontinuierlich mitteilende Gott mit Menschen schreibt, ist eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Geschichte, eine Geschichte vielfältigster Migrationserfahrungen. Die Bibel ist voller Erzählungen über Menschen, die in die Fremdheit aufbrechen, sich auf Wanderschaft befinden, dem Fremden begegnen und ihre vertraute Umgebung nicht selten für immer verlassen. Die biblischen Migrationsgeschichten und ihre Protagonisten sind so vielfältig, dass aus der heutigen Betrachtungsperspektive manch einer in ihnen die Prototypen jener Migrationsprofile erblickt, die uns eigentlich im Kontext moderner Migrationsdebatten vertraut sind: "Wirtschaftsflüchtling " (Abraham, Isaak, Josef), "politischer Flüchtling" (Moses, Jesus), "Öko-Flüchtling" (Josef) oder "religiös Verfolgter" (Jesus).

Migration und Fremdheit als Ermöglichungsgrund der Heilsgeschichte

Die Aussagekraft und die Besonderheit biblischer Migrationsnarrative erschöpfen sich aber nicht in einer bloss deskriptiven Nacherzählung einer Vielzahl unterschiedlicher Menschenschicksale und Migrationsdynamiken. Migration und die mit ihr einhergehende Erfahrung der Fremdheit sind im biblischen Kontext stets gekoppelt an die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden und mit seinen fremd anmutenden und irritierenden Bräuchen. Die hilfsbereite Aufnahme des Fremden und die Gastfreundschaft ihm gegenüber werden dabei nicht nur zur ethischen Matrix der zwischenmenschlichen, sondern im Endergebnis auch der Gott-Mensch-Beziehung.

Den locus classicus dieses Zusammenhangs von der Aufnahme des Fremden und der Erfahrung Gottes stellt die bekannte Abraham-Erzählung im achtzehnten Kapitel des Genesisbuches dar. Mitten am Tag kommen drei fremde Männer zu Abraham und seiner Frau Sarah nach Mamre. Ohne sie zu kennen und ohne zu wissen, was sie wollen, lädt Abraham sie ein. Sie können sich die Füsse waschen, erhalten etwas zu essen und zu trinken. Abraham lässt sogar ein zartes, prächtiges Kälbchen schlachten und zubereiten. Das Kapitel schliesst mit dem Satz "Nachdem der Herr das Gespräch mit Abraham beendet hatte, ging er weg, und Abraham kehrte heim" (Gen 18, 33). Aufschlussreich an dieser Genesiserzählung für den Zusammenhang der biblischen In-Beziehung- Setzung vom Umgang mit dem Fremden und der Gotteserfahrung ist, dass wir hier einerseits erfahren, was aus biblischer Sicht zum angemessenen Umgang mit dem Fremden gehört: die Aufnahme, die Bewirtung, Schutz und Begleitung beim Abschied. Andererseits entpuppt sich die Begegnung als die unmittelbare Erfahrung Gottes. Gott kommt und teilt sich mit in der Gestalt des wandernden Fremden.

 

Vor dem heilsgeschichtlichen Kontext des biblischen Migrationsnarratives erschöpft sich die Einstellung zum Fremden also nicht darin, gastfreundlich und hilfsbereit zu sein. Diese Hilfsbereitschaft wird in der Endkonsequenz zur religiösen Verpflichtung und Gotteserfahrung.

Pfingstereignis als Ermöglichungsgrund der Kirche

Die radikale In-Beziehung-Setzung der Aufnahme des Fremden und der Erfahrung Gottes bzw. der Erfüllung religiöser Gebote in der Bibel lässt sich im Umkehrschluss aber auch als Hinweis darauf interpretieren, dass die Annahme des Fremden und das Verständnis für sein Anderssein im biblischen Kontext kein Selbstläufer waren und dass die Begegnung mit dem Fremden auch vielerlei Irritationen auslöste, bis hin zur expliziten Ablehnung. Dass solche Einstellungen zum Fremden vielfach auch mit der mangelnden Fähigkeit oder auch dem Unwillen, den Fremden und das Fremde zu verstehen, einhergingen, veranschaulicht uns ein anderes wirkmächtiges biblisches Narrativ. Es ist das in der Apostelgeschichte geschilderte Pfingstereignis.

Was ist diesem Ereignis vorausgegangen, und was waren seine Konsequenzen? Die gesellschaftliche Situation im damaligen Jerusalem, so wie sie im Text geschildert wird, erinnert in vielerlei Hinsicht an die heutige Situation in unserer Gesellschaft und in unserer Kirche: eine bunte Vielfalt an Sprachen, Kulturen, Völkern und Bräuchen. Es scheinen offenbar mehr ein pragmatisches und interessengeleitetes Nebeneinander als Miteinander, aber auch Verunsicherung unter den Menschen – einschliesslich der Jünger Jesu – in einer Weise beherrscht zu haben, dass Gott sich veranlasst fühlte, in besonderer Weise einzugreifen. Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte wird sehr anschaulich geschildert, wie die Jünger Jesu mit der Gabe des Heiligen Geistes erfüllt werden. Sie können plötzlich in fremden Sprachen reden und werden von den Fremden verstanden. Und was waren die Konsequenzen dieses Ereignisses?

Weniger ein Gründungsakt

Das Pfingstereignis wird allgemein als Gründungsdatum der Kirche beschrieben. Will man das Ereignis in einen grösseren Kontext der kirchengeschichtlichen Entwicklung einordnen und nach seiner Relevanz für die kirchliche Gegenwart fragen, so erweist sich der Begriff der "Gründung" als etwas irreführend. Die Vorstellung von einem Gründungsakt kann nämlich auch den Eindruck erwecken, es sei etwas erschaffen worden, das es von nun an in existierende Form nur noch zu bewahren gilt. Sowohl die Kirchengeschichte als auch ihre Gegenwart werfen ein anderes, weniger statisches Bild auf das Pfingstereignis. Aus der Rückschau können wir sagen, dass dieses Ereignis im damaligen Jerusalem einen Prozess der Kirchenbildung und -entwicklung in Gang gesetzt hat, dessen zentrale Merkmale die Migration und das Ringen um die immer grösser werdende innerkirchliche Vielfalt waren. Das Überleben der Kirche hing somit vom Aufbruch in die Fremde ab und der Fähigkeit, den Fremden und das Fremde zu verstehen. Der Zustand kultureller, ethnischer und sprachlicher Vielfalt, der dem Pfingstereignis im damaligen Jerusalem vorausgegangen war, ist migrationsbedingt zum Strukturmerkmal auch unserer Schweizer Kirche und der Gesellschaft insgesamt geworden. Und auch die Zukunft unserer Kirche wird davon abhängen, wie wir miteinander sprechen, wie und ob wir uns verstehen bzw. verstehen wollen. Die Kirche im Sinne des Pfingstereignisses ist erst dann möglich, wenn Menschen sich verstehen, sich dialogisch aufeinander einlassen und somit auch bekennen, dass die Art und Weise wie sie jeweils glauben, denken und ihre Kirche gestalten, auch ihre Grenzen haben. Dass dies eine Herausforderung darstellt und manch einen mit Skepsis erfüllen kann, zeigte sich schon damals, mitten im Pfingstereignis: "Andere aber spotteten: Sie sind vom süssen Wein betrunken " (Apg. 2, 1–13). Diese Herausforderung gilt es aber anzunehmen. Sie ist der eigentliche Ermöglichungsgrund unserer Kirche und unserer Gesellschaft insgesamt.

Fremdheit und Fremdenaufnahme

Die Redaktion verweist auf die Studie von Richard Friedli: Fremdheit als Heimat. Auf der Suche nach einem Kriterium für den Dialog der Religionen, Freiburg 1974, welche bibeltheologisch und religionswissenschaftlich reiche Impulse vermittelt. Ebenso die Studie von Michaela Puzicha: Christus Peregrinus. Die Fremdenaufnahme (Mt 25,35) als Werk der privaten Wohltätigkeit im Urteil der Alten Kirche, Münster 1980. (SSK)

 

 

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul

Samuel M. Behloul ist Fachleiter Christentum am Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) und Titularprofessor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.