Relecture einiger Schriften von Hans Urs von Balthasar
Man wird nicht sagen können, dass Gott heute kein Thema ist. Kenner meinen darauf hinweisen zu können, dass sich die Situation gewandelt habe. Zum Beispiel in der Literatur oder im Feuilleton: «Ich gönne mir das Wort Gott» – so der Schriftsteller Andreas Maier 2005 in einem Gespräch in der Wochenzeitung «Die Zeit».
Die Frage, die dabei nicht selten offenbleibt: Welches Gewicht wird dem Wort «Gott» gegeben? Wird es genannt, um sich davon abzusetzen? Auch der britische Biologe Richard Dawkins und andere, die sich als Atheisten bekennen, kommen auf Gott zu sprechen. Aber selbst bei denen, die den Begriff in positiver Weise ins Gespräch bringen, kann und muss man sich manchmal fragen, wie ernst es ihnen damit ist. Denn manchmal bleibt die Nennung Gottes spürbar unverbindlich, und man kann nicht heraushören, dass es dabei buchstäblich um Leben und Tod geht, um die letzte und gewichtigste aller Wirklichkeiten … Und so kann man sich am Ende doch wieder fragen, ob Gott wirklich ein Thema ist.
Auf jeden Fall machen nicht wenige Christinnen und Christen heute – so vermute ich – die Erfahrung der Fremdheit: Was ihnen selbst so viel wert ist, dass sie als Christen dafür ihr Leben drangeben und als Theologinnen und Theologen auch ihr Denken – das ist für viele andere buchstäblich nicht der Rede wert. Und so hält man Ausschau nach einem Halt, nach verlässlicher Deutung der Situation und nach Orientierung. Die wohlfeilen Standardantworten sogenannter «konservativer» oder «progressiver» Ausrichtung, die über lange Zeit zu genau und zu plakativ wussten, worum es geht, haben an Überzeugungskraft verloren. Die Fragen, die sich aufdrängen, zielen tiefer.
Auf jeden Fall ist Selbstvergewisserung im Glauben an Gott, an den lebendigen Gott des christlichen Glaubens alles andere als ein Luxus. Plausibilitäten allein genügen nicht. Sie können sich ändern und machen den Glauben abhängig von dem, was gerade aktuell ist bzw. zu sein scheint. Worum es gehen kann und muss: die gegenwärtige Situation verstehen – nicht zuletzt als Stunde und Ruf Gottes; eine Perspektive aus dem Glauben finden, die das Leben und Handeln als Christ zu orientieren vermag. Und nicht zuletzt eine Sicht, die hilft, anderen klarzumachen, warum es gute Gründe gibt, Christ zu sein – nicht trotz unserer Zeitumstände, sondern gerade auch in unserer Zeit.
1. Ein (vielleicht unerwarteter) Diagnostiker
In einer Zeit der Fragen und des Umbruchs sind Dia-gnosen gefragt. Und es gibt ausreichend Diagnostiker, welche sich zu Wort melden. Auch im Blick auf Glaube, Kirche, Theologie. Aber kaum einmal fällt dabei der Name von Hans Urs von Balthasar. Dabei hat er sich wie kaum ein anderer deutschsprachiger Theologe des 20. Jahrhunderts der neuzeitlichen Geistesgeschichte ausgesetzt und darüber – noch vor seinen theologischen Werken – in der «Apokalypse der deutschen Seele» (1937) Rechenschaft abgelegt. Er war nicht nur vertraut mit der christlichen und der abendländischen Tradition, sondern auch mit der Drift des neuzeitlichen Denkens – nicht zuletzt im Blick auf die Frage nach Gott.
Vor diesem Hintergrund sind seine theologischen Werke entstanden. Sie atmen ein Wissen um Gott und seine Herrlichkeit, über den hinaus Grösseres nicht gedacht werden kann. Das hindert nicht, dass man an einigen Stellen mitten im Gott-Denken an Abgründe1 gerät, die etwas davon ahnen lassen, dass Balthasars Glauben ein Wissen und Gespür für Untiefen nicht fern gelegen sein kann. Und das ergibt sich ja aus der «Sache» – ist doch das grässliche Sterben Jesu am Kreuz die alles entscheidende Stunde, in der Gottes Herrlichkeit offenbar wird. Und vielleicht war es gerade dieser Abgrund, der ihm geholfen hat, in einer Welt, die ihrerseits von Schmerz und Dunkelheit gezeichnet ist, den christlichen Glauben als das unüberbietbar Schöne wahrzunehmen.
Jedenfalls ist Balthasar nicht nur der Theologe der göttlichen Herrlichkeit, schon gar nicht der Theologe eines schöngeistigen Ästhetizismus, sondern der Theologe, der die Herrlichkeit Gottes in der Kreuzes- Hingabe des Sohnes, also in zugespitzter Theodramatik, aufleuchten sieht. Und er ist ein Denker, der aus seiner Kenntnis der Geistesgeschichte ein Resümee zu ziehen weiss. Ungeduldig manchmal, dann aber auch fast – so scheint es – resigniert, weil man ihn nicht verstehen konnte oder wollte. Wahrscheinlich hat man ihm gegenüber das nicht ausreichend getan, was sein grosser Lehrmeister Ignatius gefordert hat und was auch dem Schweizer Theologen allein gerecht geworden wäre: seine Aussagen zu retten, d. h. sie von ihrer stärksten Seite zu nehmen.2 Und so ist auch manches in Vergessenheit geraten.
Vielleicht noch am wenigsten seine 1952 veröffentlichte Schrift «Schleifung der Bastionen».3 Zu Recht hat man wahrgenommen, wie sehr dieses kleine Büchlein Zukünftiges in Kirche und Theologie vorweggenommen hat. Im Rückblick hat sich Balthasar freilich genötigt gesehen, die Einschätzung dieser Schrift zurechtzurücken.4
Nicht alle, die sich darauf berufen haben, haben es recht verstanden. Vor allem war Balthasars Wille zum Heute alles andere als mit einer naiven oder opportunistischen Verachtung der Tradition verbunden. Immer war es begleitet vom Bemühen, den Glauben authentisch katholisch zu vertiefen, damit er der Konfrontation mit der Welt gewachsen ist.5
Trotz aller – in einem polarisierten Klima vielleicht unvermeidlichen – Missverständnisse: Der Basler Theologe hat die «Schleifung der Bastionen» als ein «Programmbüchlein»6 gesehen. Im ursprünglichen theologischen und kirchlichen Kontext konnte es wohl gar nicht anders als irritierend wirken. Bereits mit dem Titel stellt der Autor das zu seiner Zeit gängige Bild der Kirche als einer mächtigen Festung in Frage, das Bild der Kirche als eines Hauses voll Glorie, das vom Sturm umtobt wird – wie es in einem damals beliebten Kirchenlied ausgemalt wurde. Und auf etwas mehr als achtzig Seiten deckt Balthasar die innere Logik einer Entwicklung auf, die er in der neuzeitlichen Geschichte der Kirche wirksam sieht. Damit diese Logik als Orientierung für die Kirche dienen kann, gelte es freilich «das vergreiste, weil von ungenügendem Glauben durchpulste Geschichtsbewusstsein der Christen»7 aufzugeben. Darüber wird später noch zu sprechen sein.
Eine Vertiefung des Katholischen, wie sie Balthasar vertreten hat, bedeutet Betonung des Ganzen und umfassend Katholischen und seine Rückführung auf die Wirklichkeit und Lebensfülle des drei-einen Gottes.8 Und so ein Programm muss sich nicht zuletzt auch der Frage stellen, wo und wie Gott im Kontext des zeitgenössischen Denkens seinen Platz hat bzw. haben kann. Diese Frage erscheint umso dringlicher als die Antworten, die im abendländischen Denken seit Plato und Aristoteles über die Jahrhunderte hinweg als gültig erachtet wurden, in der Neuzeit fragwürdig geworden sind.
Diesem Thema hat Balthasar 1956 sein Werk «Die Gottesfrage des heutigen Menschen»9 gewidmet. Es handelt sich dabei um einen Essay, der aus mehreren Vorträgen hervorgegangen ist. Balthasar selbst sieht darin «eine Fortführung der in ‹Schleifung der Bastionen› angeschlagenen Themen».10 Der ambitionierte, vielleicht zu ambitionierte Versuch hatte eine für Balthasar enttäuschend geringe Resonanz. Alois Haas, der die Schrift im Rahmen einer Studienausgabe, erweitert durch Korrekturen und Zusätze des Verfassers, neu herausgegeben hat, resümiert: «Das Buch hatte keine starke Wirkung, fand sogar eine gewisse Gegnerschaft.»11 Balthasar beschreibt in dieser Schrift die Situation des Menschen nicht empirisch, sondern auch in diesem Werk legt er die innere Logik einer Entwicklung frei, die durch den christlichen Glauben an den weltüberlegenen Gott selbst in Gang gebracht worden ist und schliesslich auf die Gottesbeziehung des gegenwärtigen Menschen zurückwirkt. Es sei das Christentum gewesen, das zu dieser ungeheuren Betonung der Transzendenz Gottes geführt habe. Diese wiederum habe den Menschen freigesetzt und ihrerseits dazu geführt, dass der Mensch seine Freiheit auch in bis dahin ungeahnter Konsequenz in seiner Beziehung zu Gott lebe – bis zur Distanzierung und Pervertierung. So sei – nicht zuletzt – die katholische Kirche in eine problematische und spannungsreiche Situation geraten. Das Bewusstsein der immensen Transzendenz Gottes verträgt sich nicht leicht mit den Aussagen der katholischen Lehre, die Gott und seinen Willen dezidiert und sehr konkret auslegt. Dieser Gedankengang soll im Folgenden keineswegs vollständig, aber doch etwas ausführlicher dargestellt werden.
2. Wenn Gott immer jenseitiger wird
Die Gottesfrage des heutigen Menschen besteht aus drei Kapiteln, die um Wissenschaft, Religion und Christentum kreisen. Sie müssen hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Der Blick soll vielmehr auf die Angelpunkte gelenkt werden, die die Entwicklung bestimmt haben und immer noch bestimmen.
– Natur oder Geist: Wo Gott ins Blickfeld rückt
Für Hans Urs von Balthasar ist die natürliche Reli-gion, also das nahezu intuitive Wissen des Menschen um Gott, aber auch die philosophische Ausformulierung dieses Wissens, wie sie sich in der abendländischen Philosophiegeschichte von den Griechen über das Mittelalter bis in die Neuzeit ausgeprägt hat, an ein Ende gekommen.
Dass es zu dieser Transzendenz Gottes kommen konnte, dafür habe Friedrich Nietzsche das Christentum verantwortlich gemacht. Es sei das Christentum gewesen, das – so fasst Balthasar das Denken Nietzsches zusammen – «der Welt gleichsam die natürliche Religiosität aus den Adern gesogen und in die allein-wahre übernatürliche Religion Jesu Christi hinein integriert»12 habe. Aber entgegen der Tendenz, diese Entwicklung dem Christentum zur Last zu legen, hält Balthasar im Anschluss an Nikolaj Berdjajev († 1948) fest, dass das Christentum «die Menschheit zu einer Transzendenz des Geistes erweckt hat, die mit der bisherigen organischen und fraglosen Naturreligion nicht mehr vereinbar war».13 Insgesamt sei das nicht negativ zu bewerten. Zwar wende sich die Entwicklung durchaus gegen das Christentum und vor allem gegen den Katholizismus. Die «Menschheit, die sich selbst findet, versteht zwar, dass sie sich ohne das Christentum nicht gefunden hätte, dass aber der Prozess ihrer Selbstreflexion sich, um wahrhaftig zu sein, nur in der betonten Abstandnahme von der geistlichen, von oben herab gespendeten und deshalb eschatologischen und nicht immanent-geschichtlichen Einheit vollziehen kann».14 Aber aufs Ganze geht es in diesem Prozess doch um etwas Positives – um die «christliche Idee des je grösseren Gottes».15 Daher könne – so Balthasar – sogar «das erschreckende Phänomen des modernen Atheismus unter anderem eine Zwangsmassnahme der Vorsehung sein, die Menschen und insbesondere die Christenheit zu einem grösseren Denken über Gott zurückzubringen».16
– Zwischen Nihilismus und schweigender Anbetung
Heute, da das moderne Denken nicht allein in philosophischen Zirkeln, sondern auf breiter Basis zum Durchbruch komme, müsse man festhalten: «Der Gott, vor dem der heutige Mensch steht, ist nicht länger zu verwechseln mit Göttern und Naturdämonen.»17 Es gebe zwar immer noch eine kosmologische Gestalt der Religion, aber der neuzeitliche Mensch erkennt «darin nicht mehr den Ausdruck seiner zu Gott hin offenen Innerlichkeit».18 Gott begegne man jetzt nicht im Bereich der Natur, sondern im Bereich des Geistes: «Der Mensch ist verantwortlicher Geist, so kann Gott nur ewiger, zur Verantwortung ziehender, als Wort zur Antwort auffordernder Geist sein.»19 Was die Offenbarung Gottes oder ihre Möglichkeit betrifft, gelte: Gott ist «nicht ‹naturhaft› offenbar, wenn er es ist – und auch in den Dingen seiner Schöpfung es ist –, dann auf Grund seiner souveränen und personal verfügten Offenbarung, die, um als solche verstanden und aufgenommen (oder auch abgelehnt) zu werden, einer die absolute Freiheit sehen könnenden menschlichen Freiheit bedarf.»20
Gott macht also im Bewusstsein der Menschen gewissermassen eine Metamorphose durch. Das führt zur «Unmittelbarkeit des Menschheitsbewusstseins (und darin des Bewusstseins jedes Einzelnen) zur religiösen Frage».21 Es gebe einen «Einbruch der Freiheit in die gesicherten Naturbezirke».22 Und deshalb sei heute die natürliche, die Einheit der Menschheit repräsentierende Religion die Religion der offenen Frage in die Transzendenz: Die einzige Absolutheit ist die «zu Gott hin offenbleibende Frage, unter die sich alle übrigen Normen und Sätze einer natürlichen Religion subsumieren lassen müssen».23 Damit ist nicht zuletzt der Titel von Balthasars Werk klar: Wenn von der Gottesfrage des heutigen Menschen gesprochen wird, dann ist das präzise zu nehmen: Gott sei für den heutigen Menschen nicht anders als in der Frage nach ihm gegenwärtig.
Andererseits könne die Entwicklung auch missverstanden werden, und sie wurde und wird missverstanden, und zwar «zunächst fast notwendig als ein Einbruch des Nihilismus».24 Und Balthasar fährt fort: An «den Ort der alten Ehrfurcht scheint ein Zynismus ungeheuren Ausmasses getreten zu sein, an die Stelle der selbstverständlichen, eben wirklich ‹natürlichen› Religion eine ebenso selbstverständlich tuende, ungenierte Irreligion».25 An anderer Stelle spricht Balthasar in seinem Essay von «Aufruhr»26 gegen Gott, vom «Willen zur Hölle»27 bzw. von «Infernismus»28. Und damit öffne sich der «Abgrund der ewigen Verlorenheit».29
Nach allem Gesagten ist verständlich, dass Balthasar die Entwicklung differenziert beurteilt – man könne sie «nicht oder wenigstens nicht eindeutig als Zerfall der Religion ansehen».30 Ja man könne, «wenn man den Schritt des Menschheitsbewusstseins in die anthropologische Epoche ernsthaft bedenkt, gar nichts anderes erwarten».31 Balthasar sieht also in dieser Entwicklung eher das Resultat einer inneren Logik als das Ergebnis einer bewussten Ablehnung Gottes. Und deshalb werden sich – so Balthasar – Christen «über die Säkularisierung des öffentlichen Lebens nicht über Gebühr beklagen».32
– Einsamkeit, Schweigen und der Namenlose
In diesem Zusammenhang wird auch die Einsamkeit zum Thema. Für Balthasar ist sie eine Signatur des Menschseins – nicht erst heute. Auch und zumal vor dem Absoluten stehe der Mensch als Einsamer.33 Anders als in früheren Zeiten will der moderne Mensch in seiner Einsamkeit keinen Schritt über das hinaus machen, was er verantworten zu können meint.34 Und so gebe es im Blick auf Gott heute weithin ein vorsichtiges und zurückhaltendes Schweigen.35
Wie kann der Christ diesem Schweigen entgegentreten?36 Balthasar meint, es sei in dem Mass möglich, als er erkennt, dass das Schweigen auch zum – recht verstandenen – christlichen Glauben gehört. So bezeuge es die grosse christliche Überlieferung seit den Kirchenvätern: Das Schweigen «ist Nachhall der göttlichen Tiefe und gehört zum ‹Bild und Gleichnis› des göttlichen Wesens in der Kreatur».37 Es bedeute, «dass kein Seiendes, das am Geheimnis des Seins teilhat, aufgeht in seiner Erscheinung».38 Das Schweigen stehe dafür, dass «Gott kein ‹Gegenstand› ist» und «deshalb auch nur analogisch in die Kategorie des ‹Andern›, des ‹Du› eingereiht werden kann».39
Allerdings: Menschliche Einsamkeit ist für Balthasar doppelgesichtig. Sie könne äusserste Verschlossenheit gegenüber Gott sein, aber ebenso Offenheit zu ihm hin.40 Dann werde der Mensch zum «Einsamen der Nähe».41 Er weiss dann «um das Geheimnis, das unaussprechbare, dass er, als wahrhaft Einsamer, in der Einsamkeit ruht».42 Das sei dann die «Stelle, wo die kleine Therese nicht mehr Gott zu sehen verlangt, sondern vor lauter Nähe die Augen senkt».43 Der Mensch schweigt, um Gott in seinem Schweigen Raum zu geben.44
An diesen Überlegungen Balthasars wird sichtbar, wie er mit der Situation des heutigen Menschen deutend verfährt. Was auf den ersten Blick als Gottferne und daher als negativ erscheint, wird von ihm als neue Möglichkeit des Zugangs zu Gott aufgeschlüsselt. Mit den Worten von Alois Haas: «Die Gottesfrage, die letztlich eine Antwort auf die schlechthin endliche Befindlichkeit des Menschen ist, drängt ihn zur Unendlichkeit Gottes. Das Christentum wird so als Ausweitung und neue Bewusstwerdung erfahren.»45
– Die Kirche: Segen und Not erlösender Klarheit
Das ausgeprägte Bewusstsein der Transzendenz Gottes, wie es in Balthasars Analyse für die europäische Neuzeit immer bestimmender wird, hat auch Rückwirkungen auf die Kirche und ihre Lehre. In einer Welt, in der Gottes Ferne und die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen zu unabweisbaren Erfahrungen und nicht hinterfragbaren Einsichten geworden sind, wird die Kirche, zumal die römisch-katholische Kirche, zum «Störenfried». Grund dafür ist nach Balthasar die Tatsache, dass die katholische Kirche den Anspruch Jesu unabgeschwächt aufrecht hält.46
Die katholische Kirche irritiert durch ihre konkreten Weisungen und Einsprüche die Freiheit und Selbstbestimmung, die Menschen für sich in Anspruch nehmen. Zugleich wisse sie aber, dass genau diese klar konturierte Botschaft, die aus dem Wirken des Mensch gewordenen Gottes kommt, die entscheidende Antwort auf die heutige Situation des Menschen ist: «Jesus Christus als der Gottmensch ist, nachträglich und im Glauben betrachtet, die exakteste Verwirklichung dessen, was auf Grund der Menschheitsfrage von Gottes freier Gnade und Barmherzigkeit abschliessend erwartet werden durfte.»47 Denn in Jesus Christus nimmt Gott die Situa-tion des modernen Menschen ernst. In Christus treffe der Mensch in seiner Freiheit auf Gott, der sich seinerseits in seiner Freiheit dem Menschen in Gnade und Barmherzigkeit zuwendet. Und genau dafür stehe die Kirche. Sie erweise sich als Anwältin dafür, «dass Gott in die zu ihm hin offene Frage des Menschen und der Menschheit sein Wort gesprochen hat, und zwar ein versöhnendes und ein erlösendes Wort, dessen Gnadencharakter gerade darin zuhöchst sichtbar wird, dass es nicht mehr transzendent vom Himmel herab geredet wird, sondern Fleisch geworden ist, unter uns gewohnt und sich gewürdigt hat, dem Menschheitsbewusstsein eine neue Mitte zu werden».48
Aber die Grösse und Schönheit dessen, wofür die Kirche steht, ändert nichts an ihrer prekären Situa-tion. Sie gerät nicht nur in Widerspruch zu dem, was als philosophisch-spiritueller common sense angesehen wird, sondern sie riskiere auch den Abfall vieler ihrer Mitglieder, die nicht bereit sind, aus der allgemeinen Übereinkunft in der heutigen Vernunft-Religion auszuscheren.49