«Du sollst dir kein Gottesbild machen, das irgendetwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde» (Dtn 5,8; vgl. Ex 20,4). Unmittelbar voraus geht das grundlegende Gebot: «Du sollst neben mir keine anderen Götter haben» (Dtn 5,7; Ex 20,3). Offensichtlich soll durch das Bilderverbot der Götzendienst verhindert werden, dem Israel mit dem Goldenen Kalb erliegt, noch während Mose auf dem Berg die Gebote empfängt. Oft ist das Verbot der Gottesbilder als radikales Bilderverbot interpretiert worden. Wenn Bilder und Zeichen zu Götzen wurden, hatte die Abwendung von ihnen immer wieder eine heilsam reinigende Kraft. Doch konnte sie auch eine zerstörende Kraft entfalten, wenn z. B. im Bildersturm der Reformation die kostbaren spätgotischen Skulpturen des Berner Münsters als Füllmaterial für die Münsterplattform endeten.
Das Himmlische bezeugend
Weniger bekannt ist eine frühe Ausnahme vom Bilderverbot, die in den Augen der Bilderfeinde unverständlich bleiben muss. In den Anweisungen zur Gestaltung der Bundeslade erhält Mose von Gott selbst den Auftrag: «Mach zwei Kerubim aus getriebenem Gold und arbeite sie aus den beiden Enden der Deckplatte heraus [...] Die Kerubim sollen die Flügel nach oben ausbreiten, mit ihren Flügeln die Deckplatte beschirmen und sie sollen ihre Gesichter einander zuwenden; der Deckplatte sollen die Gesichter der Kerubim zugewandt sein [...] Dort werde ich mich dir zu erkennen geben und dir über der Deckplatte zwischen den beiden Kerubim, die auf der Lade der Bundesurkunde sind, alles sagen, was ich dir für die Israeliten auftragen werde» (Ex 25,18–22).
Diese rätselhafte Anweisung zeigt die Engel in der Rolle, die sie in der gesamten Bibel wahrnehmen und die für das menschliche Verständnis widersprüchlich klingt: Aus dem Stoff der Erde gemacht, bezeugen sie das Himmlische; das Irdische beschirmend, sind sie nach oben offen; einander zugewandt, bleiben sie auf die Geschichte bezogen; so werden sie zum Erscheinungsort des unsichtbaren Gottes und seiner Botschaft für das Volk.
Die theologische Tradition hat die Engel bereits im ersten Satz der Bibel erkannt: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde» (Gen 1,1). Der Himmel – das ist nicht der Raum oberhalb der höchsten Schweizer Berge, das ist derjenige Teil der geschaffenen Welt, der aus geistigen Wesen besteht, die Gott schauen. Sie stehen im Dienste Gottes, der sie zum Dienst an der Schöpfung aussendet. Sie sind angeloi, das bedeutet: Boten, Gesandte, himmlische «Apostel». Von der Himmelsleiter, die Jakob auf seiner Flucht vor Esau im Traum sieht, heisst es: «Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder» (Gen 28,12). Die Himmelsleiter ist keine Strickleiter, die aus dem Himmel herabhängt. Sie steht «auf der Erde» in der geschaffenen Welt. Die Engel steigen «auf», bevor sie «niedersteigen»!
Engel wahren unser wahres Angesicht
So sind die Engel auch in die Welt der Ikonen eingetreten. Sie sind gleichsam der Prüfstein der Ikonografie: Die Darstellung Jesu, der Heiligen und der heilsgeschichtlichen Szenen könnten missverstanden werden als die Abbildung von Sichtbarem, als Ersatz für leider nicht vorhandene Fotos. Dieses Argument gilt für die Engel nicht. Was gibt uns das Recht, sie mit einem menschlichen Antlitz darzustellen? Weshalb lässt sich ihr menschliches Antlitz als eine Offenbarung des Antlitzes Gottes deuten? So hat es der Ikonenmaler Andrej Rubljev getan, als er den Besuch der drei Männer bei Abraham und Sarah als Modell verwandte, um die berühmte Ikone der Heiligsten Dreifaltigkeit in der Gestalt dreier Engel zu schaffen. Sie ist heute in der Tretiakow-Galerie in Moskau zu sehen und wird dort immer wieder zum Ort einer lebendigen Glaubenskatechese.
Die Engel als «dienende Geister» – das macht vieles verständlich, was die theologische Tradition über die Engel besagt. Das spontane religiöse Empfinden sagt: Gott steht in der Seinsordnung oben, dann folgen die Engel, dann die Menschen im Horizont des gesamten Kosmos. Die staunende Entdeckung der Christen lautet: Gott hat das Heil der Schöpfung nicht durch einen Engel, sondern durch die Annahme der Menschengestalt und durch ein vollendet menschliches Leben erlöst. Der Hebräerbrief formuliert dieses Staunen: Jesus Christus «ist um so viel erhabener geworden als die Engel, wie der Name, den er geerbt hat, ihren Namen überragt. Denn zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt, und weiter: Ich will für ihn Vater sein, und er wird für mich Sohn sein? Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: Alle Engel Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen» (Hebr 1,4–6).
Fast könnte man Verständnis zeigen für die Engel, die der Glaubenstradition nach gesagt haben: «Non serviam» – Ich will diesen Erdenwürmern nicht dienen!1 Auch ohne explizite Bezüge zum Glauben dauert diese Tradition fort in Filmen wie «Der Himmel über Berlin» von Wim Wenders. Die Geschichte wiederholt sich: Ein Engel verliebt sich in ein Menschenkind und verzichtet auf die himmlische Herrlichkeit, um die Schönheit, aber auch die Widerständigkeit und Sterblichkeit der irdischen Welt mit ihrer Fähigkeit zum Werden, zum Gestalten, zur Liebe auf sich zu nehmen.
Damit sind wir wieder bei der Frage, wie die Engelikone in Menschengestalt möglich ist. Die Spurensuche in der Heiligen Schrift und die Intuition der Ikonografie führen zu einer Antwort: Wenn die Engel in Menschengestalt erscheinen, dann ist das weder eine menschliche Projektion noch eine pädagogische «Verkleidung», um besser mit uns Menschenkindern kommunizieren zu können. Die Menschengestalt der Engel offenbart die Urgestalt des Menschen und der ganzen Schöpfung in Gott. Die Engel sind nicht einfach ein himmlisches Heer, das willkürlich der Menschenwelt zugeordnet wird. Die Engelwelt birgt in geistiger Gestalt die Gesamtheit der raum-zeitlichen Schöpfung in ihrer von Gott gewollten Urgestalt in sich. Unsere Schutzengel sind unsere himmlischen Freunde, die unser Ich, unseren Namen, unser Angesicht für uns wahren und schützen, auch wenn wir selbst uns unrettbar fremd und uneinholbar entzogen erscheinen. Sie erweitern das Mass des Menschen und das Mass aller geschöpflichen Wirklichkeiten auf das Mass des Engels, das ihm von Gott für uns übertragen wird. In der Vollendung der Schöpfung werden wir sehen: Die neue Stadt Jerusalem ist bemessen «nach dem Mass des Menschen, das (das Mass) des Engels ist» (Offb 21,17).
Unsere Welt, die so grosse Dinge vollbringt, denkt im Grunde zu klein vom Menschen. Die Engelikone lädt ein, nicht nur mit der «halben Schöpfung» zu leben. Unseren himmlischen Freunden wird es Freude machen, wenn wir in ihnen Gottes liebevolle Vorsehung neu entdecken: «Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen» (Ps 91,11).
Barbara Hallensleben