«Denn ich will euch eine Hoffnung geben»

«Anglos Nubus» von Paul Klee, 1920. (Bild: Wikipedia)

 

Ich sehe vor mir zwei Engel: Der eine ist der Engel der Geschichte. Paul Klee hat ihn gemalt und Walter Benjamin hat ihn gedeutet. Er hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Ereignissen vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft. Er hat der Zukunft den Rücken zugekehrt, während der Trümmerhaufen der Geschichte vor ihm zum Himmel wächst. Der andere ist der Engel der Zukunft. Der Prophet Maleachi hat ihn gesehen. Er bereitet dem Kommen Gottes in unserer Geschichte den Weg. Menschen werden am Tag seiner Zukunft nicht unvorbereitet sein. Das ist der «Engel des Bundes», der Engel der Verheißung. [...] Dieser Engel der Zukunft blickt nicht zurück mit Trauer oder Zorn auf die Trümmerfelder unserer menschlichen Geschichte. Er sieht mit großen Augen in die Zukunft des kommenden Gottes und kündigt die Geburt des göttlichen Kindes an. Der Sturmwind des göttlichen Geistes weht in seinen Flügeln und Gewändern, als hätte dieser Sturmwind ihn in unsere Geschichte geweht. Er bringt die Geburt der Zukunft aus dem Geist der göttlichen Verheißung.

Viele Maler haben diesen Engel der Zukunft gemalt, und vielen von uns ist er auf die eine oder die andere Weise begegnet. Er begegnet uns selten in unseren Erfolgen und Siegen, sondern meistens in den Trümmern unseres Lebens, denn der Engel der Zukunft und der Engel der Geschichte gehören zusammen und sind die zwei Gesichter desselben einen Engel Gottes. Mir ist dieser Engel vor genau 50 Jahren in einer kalten, finsteren Baracke eines Kriegsgefangenenlagers in diesem Land bei Ostende begegnet. Als ich über die Trümmer verzweifelte, die mein Volk im Krieg überall angerichtet hatte, wurde ich zu einer lebendigen Hoffnung neu geboren. Als ich mein zertrümmertes Leben aufgeben wollte, wurde ich von Gott aufgehoben. Als ich mich von allen guten Geistern verlassen fühlte, fand ich in Christus meinen Bruder in der Not und meinen Erlöser.

Je länger ich mit dieser neuen Hoffnung gelebt habe, desto klarer ist sie mir geworden: Unsere wahre Lebenshoffnung kommt nicht aus den Gefühlen unserer Jugend, so schön diese auch sind. Sie entsteht auch nicht aus den objektiven Möglichkeiten der Geschichte, so unbegrenzt sie auch sein mögen. Unsere wahre Lebenshoffnung wird erweckt und durchgehalten und endlich erfüllt von dem großen göttlichen Geheimnis, das über uns und in uns und um uns herum ist, uns näher, als wir uns selbst sein können. Es begegnet uns als das große Versprechen unseres Lebens und dieser Welt: Es wird nichts umsonst sein – es wird gelingen – es wird zuletzt alles gut werden! Es begegnet uns zugleich im Ruf zum Leben: «Ich lebe, und ihr sollt auch leben.» Wir werden zu dieser Hoffnung berufen.

Jürgen Moltmann*

 

* Jürgen Moltmann (Jg. 1926) war Professor für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, an der Universität Bonn und der Universität Tübingen. Quelle: Erstabdruck in der Zeitschrift «Orientierung 51» (1995)/6, 61–63.