Der Körper als Weg zu Gott

Abt Urban Federer von Einsiedeln blickt zurück ins Mittelalter und forscht in der damaligen Mystik nach Parallelen im Umgang mit unserer Körperlichkeit – auch im Hinblick auf die aktuelle Pademie.

«Oh wie wenige Menschen haben die Tugend der Gelassenheit und der Ausdauer im Leiden. Sie sollten sich selbst annehmen, wie sie sind, und ihre Krankheit in dieser Haltung leiden, ihre Abhängigkeiten und Prüfungen, bis der Herr sie selbst heilt.» Dieser Aufruf des Dominikaners Johannes Tauler (ca. 1300–1361) zu Gelassenheit mag uns noch 700 Jahre später ansprechen. Sobald allerdings seine Zeitgenossin Margareta Ebner (ca. 1291–1351) Einzelheiten ihrer Krankheiten wiedergibt, wirkt das für uns heute befremdend. Die Dominikanerin war über Jahre hinweg ans Bett gefesselt. Inhalt ihrer «Offenbarungen» ist darum der richtige Umgang mit der Krankheit. Wenn Johannes Tauler das Erleiden einer Krankheit auf die Heilung durch Gott hin predigte, fällt bei Margareta Ebner die Darstellung ihrer Krankheit körperbetonter aus: «Möge mein Leib mit keinem anderen Leiden verwundet werden als mit jenem meines Herrn Jesus Christus.» Die Krankheit wird für sie zu ihrem Ort der Nachfolge Christi. Margareta, die eine Freundin Taulers war, nahm damit ein Thema auf, das den mittelalterlichen Menschen viel mehr beschäftigte als uns heute: Krankheit und Tod. Oder bringt uns die gegenwärtige Pandemie diese Tatsachen gerade neu ins Bewusstsein?

Das Mittelalter ist uns fern – und genau das macht es für uns spannend. Seine Erforschung ist mit der Entdeckung einer fremden Kultur vergleichbar. Nur geht es beim Mittelalter um unsere eigenen Wurzeln. Und diese sind eben nicht nur vom Verstand her, sondern auch von einer grossen Körperlichkeit bestimmt. In den Schriften Margaretas wird der Weg zu Gott etwa als eine Nacherzählung einer Geburt dargestellt. Deren Frucht ist aber nicht ein Kind, sondern die unio mystica, die mystische Vereinigung mit Gott. Haben wir es mit einer krankhaft übersteigerten Religiosität zu tun? Wer sich länger mit diesen Schriften beschäftigt, merkt: Es geht hier um Literatur, um einen gestalteten Bericht, und nicht um Selfies aus dem Alltag Margaretas. Auch ist das Thema nicht geschlechtsspezifisch zu sehen: Taulers zentrales Anliegen ist ebenfalls die Gottesgeburt in der Seele des Menschen.

Was Johannes Tauler in seiner Predigt fordert, findet sich bei Margareta Ebner in ihren «Offenbarungen» bildlicher und körperbetonter verwirklicht. Mit Margareta bleibt das Gedächtnis lebendig, dass in der dominikanischen Mystik Frauen oft nicht nur im Zentrum eines geistlichen Austausches standen, sondern auch literarisch und damit apostolisch tätig waren. Dabei war die Körperlichkeit in der Literatur im Bild allgegenwärtig. Findet sich in der spätmittelalterlichen Mystik also mehr Körperliches als Geistiges? Ein anderer Bekannter Margaretas, der Dominikaner Heinrich Seuse, wollte «bilde mit bilde ustriben». Seuse möchte durch Bilder zur Bildlosigkeit kommen, zu dem, was hinter den Bildern ist. Körperlichkeit, konkrete Bilder und das nicht Fassbare, das dahintersteht – sie gehören für die mittelalterliche Mystik unzertrennlich zusammen. Und tatsächlich: Wer Seuses Schriften liest, kommt am Ende nicht etwa zum rein Körperlichen und bleibt so nicht beim Bild stehen, sondern erfährt Gott als Gnade, als Geschenk. Diese Tradition der Mystik weiss: Der Köper ist ein wichtiger Weg zu Gott. Fordert uns nicht auch die gegenwärtige Pandemie heraus, körperliche und psychische Leiden nicht zu tabuisieren, sondern vielmehr als gläubige Menschen in der Nachfolge Christi mit Gott in Verbindung zu bringen und so Heilung in Gott zu suchen?

Abt Urban Federer


Urban Federer

Urban Federer (Jg. 1968) studierte Theologie in Einsiedeln und St. Meinrad, Indiana (USA), danach Germanistik und Geschichte in Freiburg i. Ü., wo er auch promovierte. Seit 2013 ist er Abt des Klosters Einsiedeln und damit Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Er steht der Liturgischen Kommission der Schweiz vor. (Bild: Jean-Marie Duvoisin)