Der Löwe, der ein Lamm ist

3. Sonntag in der Osterzeit: Offb 5,11–14 (Apg 5,27b–32.40b–41; Joh 21,1–19 oder 21,1–14)

Es ist eine Eigenart der Apokalypse, dass sie mit Bildern arbeitet. Mehr noch als Begriffe sind Bilder vieldeutig. Bilder wollen zuerst einmal betrachtet werden, uns in ihren Bann ziehen und auf diese Art stärken, die Wirklichkeit zu verändern. Wiederum besteht eine der Schwierigkeiten der Lesung darin, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt aus einem Hymnus widergibt, der Bestandteil einer himmlischen Liturgie ist, die der Seher Johannes schaut. Dieser Kontext ist entscheidend.

Öffnung

Johannes schaut eine Tür im Himmel, die offen steht (Offb 4,1). Dies ist insofern wichtig, als die Situation des Johannes und diejenige seiner Brüder und Schwestern eine hoffnungslose und abgeschlossene ist. Wie er sich bei seiner Berufung umdrehen musste, um die Worte des Lebens überhaupt hören zu können, so wird er hier aufgefordert, den Himmel durch die offene Tür zu betreten. Er wird vom Geist ergriffen, betritt den Thronsaal Gottes und schaut. Was er schaut, ist Bibelleserinnen und -lesern bekannt aus Ex 19; Jes 6; 11; Ez 1 und anderen Thronschilderungen und Gotteserscheinungen. Die ganze Schöpfung (vier Wesen) und alle Völker der Welt zusammen mit Israel (24 Älteste) sind anwesend. Sie loben und preisen Gott. D ann schaut der Seher in der rechten Hand der auf dem Thron sitzenden Gestalt eine innen und aussen beschriebene Buchrolle mit sieben Siegeln. Auf die Frage des Engels, wer würdig sei, diese Siegel zu öffnen, findet sich niemand, sodass der Seher Johannes heftig zu weinen beginnt. Die Rolle wird verschlossen bleiben, weil niemand da ist, der sie öffnet und hineinschaut. Doch einer von den Ältesten tröstet ihn: «Weine nicht! Siehe den Sieg errungen hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen » (Offb 5,5). Darauf schaut Johannes das Lamm, «das geschlachtet schien» (Offb 5,6), das kam und empfing das Buch. Die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten fallen vor ihm nieder und singen ein neues Lied. Sie preisen das Lamm, das würdig ist, das Buch zu öffnen, denn es ist geschlachtet worden, hat mit seinem Blut erkauft für Gott Menschen aus jedem Volk und jeder Nation, und es hat sie «für unseren Gott zu einem Königreich und einer Priesterschaft gemacht, und sie werden herrschen auf Erden» (Offb 5,10). In diesen Gesang stimmen Myriaden über Myriaden ein. Der Inhalt ihres Gesanges ist die Lesung vom Sonntag. H alten wir fest: Johannes ist in den Himmel entrückt. Ihm wird gezeigt, was geschehen soll (vgl. 4,1). Es folgt die Vision des himmlischen Thronsaales und ein Gesang, der Gott als Schöpfer und Herrscher über das All preist (Offb 2,2–11). Diese Szene ist ein Kontrapunkt zu dem, was real existiert: Gott allein ist Quelle und Ursprung aller Macht. Weder der Kaiser noch das Imperium können sie für sich beanspruchen. Beanspruchen sie sie aber trotzdem, dann kann und darf es keine andere Offenbarung geben als diejenige, die ihren Machtanspruch legitimiert. Die Offenbarung wird zum Fetisch der Herrschaft. Mit ihr kann man die Opfer rechtfertigen, die das eigene System produziert. Gegen dieses in sich geschlossene System steht die offene Tür. Sie steht symbolisch dafür, dass die Totalität der Herrschaft durchbrochen ist. In der Hand der auf dem Thron sitzenden Gestalt ist eine Buchrolle. Weil niemand sie öffnen kann, weint Johannes. Hier bricht die Sinnlosigkeit der Geschichte durch, denn das Buch symbolisiert die menschliche Geschichte. Die ist zwar buchstäblich zum Heulen,1 das Schlimmste jedoch ist, dass das, was erlebt wird, absurd und ohne jeden Sinn zu sein scheint. «Nicht dass in diesem Buch alles niedergeschrieben wäre, was geschehen wird, vielmehr birgt es das Geheimnis, das Mysterium der Geschichte; es enthält die Offenbarung des Mysteriums Gottes, das die Geschichte verstehbar macht und ihr Sinn verleiht»2 (104). Dieser Bann der Sinnlosigkeit wird gebrochen: Es ist der Löwe von Juda, der den Sieg errungen hat. Diese Aussage ist eine Entfaltung von Gen 49: Jakob segnet seinen Sohn Juda, von dem das Zepter nicht weichen wird, und tränkt es mit messianischen Konnotationen. Dieser Löwe wird dann zum Lamm, das verwundet ist. Gewiss, man kann darüber streiten, ob das Lamm ein Widder ist oder nicht, das Griechische ist mehrdeutig. Das ist aber weiter nicht so entscheidend. Denn die Aussage, die sich aus der Verschmelzung der beiden Bilder ergibt, lässt das Lamm nicht einfach zu einem brav blökenden Lämmlein verkommen, das alles erduldet, wie der Löwe nicht zu einem Raubtier entartet. Viel wichtiger ist da die Verheissung des Jesaja, dass Lamm und Wolf oder eben Löwe zusammen sein werden. Dieses Lamm ist mächtig (sieben Hörner) und hat die Fülle des Geistes (sieben Augen). Es trägt eine Wunde – sie macht sichtbar, dass es ermordet wurde (Martyrium) und weist als solches auch auf alle die Menschen hin, die ihren Widerstand gegen das göttliche Macht beanspruchende Imperium mit ihrem Leben bezahlt haben. Dieses Lamm wird von den Engeln gepriesen. Das Lob schwillt zu einem grandiosen Fortissimo der ganzen Schöpfung an, «jedes Geschöpf im Himmel und auf der Erde und auf dem Meer, und alles was darin ist, hörte ich rufen: Ihm, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm seien Lob, Ehre und Preis und die Herrschaft von Ewigkeit zu Ewigkeit» (Offb 5,13). Die Freude kann nicht anders als singen. Johannes, der eben noch weinte, wird hineingenommen in eine Welt, die die Erlösung vorwegnimmt und die Kraft zum Widerstand gibt.

Mit Johannes im Gespräch

Die ganze himmlische Liturgie schliesst sich an die Sendschreiben an die sieben Gemeinden an. Diese erhellen die Situation, in der sich die Kirchen befinden. Es ist diejenige der Verfolgung und Unterdrückung, des erfolgreichen Widerstandes, aber auch des Versagens, weil sich einzelne von ihnen mit der unterdrückerischen Macht zu arrangieren versuchen. Pauschal formuliert: Es ist eine korrumpierende, kaputtmachende Situation. Dieser gegenüber steht der offene Himmel. Mit Himmel ist nicht etwas gemeint, das von dieser historischen Wirklichkeit abgespalten ist. Nein, er ist die Tiefendimension der Geschichte, das, was in dieser Geschichte die Kraft zum Widerstand gibt. Deshalb sollte er in der Predigt nicht von dieser historischen Wirklichkeit abgelöst werden, weil er dann nur zu schnell zu einem billigen Mittel der Vertröstung wird. Es geht, pointiert formuliert, nicht darum, Widerstand zu leisten, um in den Himmel zu kommen, sondern der Himmel bzw. das im Himmel geschaute Geschehen ermöglicht es im Hier und Jetzt, Widerstand zu leisten. Offenbarung ist Enthüllung, Entbergung der Gegenwart Jesu Christi inmitten der Seinen. Für den Seher Johannes ist Jesus nicht gestorben und auferweckt worden und dann in den Himmel aufgefahren, indem er die Welt sich selbst überlassen hat. Vielmehr ist der Auferstandene mitten in den Gemeinden, die Umstände indes lassen an seiner Gegenwart zweifeln. Die Liturgie jedoch feiert die Gegenwart Gottes in der Geschichte. Sie nimmt etwas vorweg und ermächtigt, der realen Macht, die zum Götzendienst zwingt, zu widerstehen. Da ist es auch kein Zufall, dass gesungen wird. Die Lieder lassen die Gegenwart Gottes präsent werden. Lieder zu singen ist ein kulturelles Gut, das vielen Widerstandsbewegungen Kraft verliehen hat. Erinnerst sei an die singende Revolution der Bevölkerung von Vilnius.

 

 

 

1 Klaus Wengst: «Wie lange noch?». Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – Eine Deutung der Apokalypse des Johannes. Stuttgart 2010.

2 Pablo Richard: Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kommentar. Luzern 1996, 104.

Hanspeter Ernst

Hanspeter Ernst

Der Theologe und Judaist Hanspeter Ernst ist Geschäftsleiter der Stiftung Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum, Islam