Der Rat demonstriert seine Macht

Der Historiker Daniel Sidler gibt einen Einblick in die politische und konfessionelle Gemengelage im 18. Jahrhundert. Die städtische Obrigkeit war bestrebt, ihre Macht gegenüber ländlichen Untertanen zu festigen.

Der Ketzerprozess gegen Jakob Schmidlin scheint nur schlecht in die Mitte eines Jahrhunderts zu passen, das in der historischen Forschung häufig als «Zeitalter der Aufklärung» bezeichnet wird. Rationales Denken, Glaubensfreiheit und religiöse Toleranz sind Phänomene, die mit dieser Zeit assoziiert werden, denen das Vorgehen des Luzerner Rates gegen Schmidlin jedoch (scheinbar) zuwiderläuft. In der Tat war in der Eidgenossenschaft das aufklärerische Gedankengut um 1750 zwar bereits spürbar, jedoch vor allem in den reformierten Orten, und auch hier entfaltete es seine Dynamik erst in der zweiten Jahrhunderthälfte. Der Prozess gegen Schmidlin zeigt vielmehr, wie präsent die Religion im öffentlichen Leben noch immer war, ja dass religiöser Devianz noch immer das Potenzial attestiert wurde, die soziale und politische Ordnung zu stören. Das Handeln der am Prozess beteiligten Akteure ist vor dem Hintergrund konfessioneller und religiöser Entwicklungen, aber auch politischer und wirtschaftlicher Dynamiken zu lesen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Luzern und weite Teile der Eidgenossenschaft prägten.

Konfessionelle Einheiten und Polemik

Die Eidgenossenschaft war zu jener Zeit noch immer stark von der konfessionellen Spaltung geprägt, die seit der Reformation mehr oder weniger unverändert geblieben war. Die konfessionelle Teilung stand einem Mit- und Nebeneinander auf eidgenössischer Ebene in der Regel zwar nicht im Wege. Dennoch nutzten beide Seiten Gelegenheiten, um zu polemisieren und die Überlegenheit der eigenen Konfession zu inszenieren. An solchen Polemiken entzündeten sich, vor allem wenn sie die Verwaltung der gemeinsam regierten Gemeinen Herrschaften betrafen, immer wieder Konflikte. Ein solcher entlud sich 1712 in einem vierten eidgenössischen Konfessionskrieg, dem Zweiten Villmergerkrieg, den die reformierten Orte gewannen und damit die Vormachtstellung der katholischen Kantone innerhalb der Eidgenossenschaft beendeten. Der daraufhin abgeschlossene Friedensvertrag sah zwar formell eine gegenseitige Duldung der jeweils anderen Konfession vor. An konfessioneller Polemik mangelte es allerdings auch danach nicht.

Der konfessionellen Pluralität auf eidgenössischer Ebene stand das Selbstverständnis konfessionell einheitlicher Territorien auf Ebene der einzelnen Kantone gegenüber. Hier waren die Handlungsspielräume für Angehörige anderer Konfessionen oder unorthodoxer Glaubenslehren eng begrenzt. Wer nicht an den religiösen Praktiken teilhatte, gefährdete nicht nur die religiöse Einheit, sondern abweichendes Verhalten galt auch als Widerstand gegen die bestehenden politischen Verhältnisse. Jakob Schmidlin war nicht der einzige, der dies Mitte des 18. Jahrhunderts zu spüren bekam. Auch in Bern und Basel etwa ging die Obrigkeit zur selben Zeit gegen Pietistinnen und Pietisten vor, also die Angehörigen jener religiösen Erneuerungsbewegung, von der auch Schmidlin beeinflusst war. In den reformierten Orten gingen radikale Pietistinnen und Pietisten in ihrem Separatismus weiter als Schmidlins Bewegung. Sie strebten nicht nur nach einer religiösen Erneuerung des Individuums, sondern agierten ausserhalb der pfarrkirchlichen Strukturen, verweigerten Abgaben und Dienste und stellten so die Autorität ihrer jeweiligen Obrigkeit in Frage.

Durchlässige Grenzen

Das Auftauchen dieser neuen Ideen in Luzern zeigt, dass die konfessionellen Grenzen keinesfalls undurchlässig waren. Die Eliten der einzelnen Kantone waren innerhalb der Eidgenossenschaft gut vernetzt, und auch auf der Landschaft bestanden gerade in den Grenzregionen teilweise enge überkonfessionelle Kontakte. Durch die wirtschaftliche Entwicklung des 18. Jahrhunderts verstärkte sich dieser Austausch weiter, zwischen dem Entlebuch und dem Emmental etwa durch das Aufkommen der Textil- und Seidenbandindustrie. Auch auf der Luzerner Landschaft bot textile Heimarbeit Bauernfamilien eine Ergänzung zur Landwirtschaft und eine Alternative zum noch immer wichtigen Solddienst. Anders als etwa in Bern oder Basel zeigte in Luzern die Stadt jedoch kaum Interesse an den neuen industriellen Möglichkeiten. So suchten Heimarbeiter und Kleinverleger andere Wege, um an Arbeit zu kommen und ihre Produkte zu verkaufen. Sie fanden diese nicht zuletzt jenseits der konfessionellen Grenze und knüpften so Kontakte, die nicht nur den Austausch von Gütern, sondern auch von Ideen förderten.

Intensiviertes Staatskirchentum

Die Sprengkraft religiöser Devianz war auf die enge Verzahnung von Politik und Religion zurückzuführen. Die Räte in den einzelnen Orten lenkten nicht nur die Politik im engeren Sinne, sondern verstanden sich als «christliche Obrigkeiten», die sich auch für religiöse Angelegenheiten, für die Sittlichkeit und Moral ihrer Untertanen zuständig fühlten. Zudem bestand eine enge personelle Verflechtung zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirche. In Luzern gaben im 18. Jahrhundert noch gut zwanzig Familien den Ton an, deren Angehörige ihr Auskommen vor allem im Solddienst und als Militärunternehmer fanden und die politischen Schlüsselstellen im Rat sowie die wichtigsten kirchlichen Ämter besetzten. In der täglichen Religions- und Moralpolitik kooperierte der Rat mit den Geistlichen, auf die er insbesondere auf der Landschaft für die Kontrolle der Bevölkerung angewiesen war. Bisweilen stand der Rat aber auch in Konkurrenz zu Klerikern und den kirchlichen Autoritäten um die Vormachtstellung in religiösen Belangen.

In Luzern intensivierte der Rat das Staatskirchentum, also seinen Zugriff auf die Kirche, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er war insbesondere bestrebt, seine Aufsicht und rechtliche Kontrolle über den Klerus auszudehnen und zu festigen. Als Folge davon kam es wiederholt zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Rat und den Vertretern von Papst und Bischof. Beide Seiten versuchten immer wieder, eine Führungsrolle in religiösen Belangen zu beanspruchen und zur Schau zu stellen, indem sie gegen auffäl-
lige Geistliche und gegen abweichende religiöse Praktiken vorgingen.

Unruhige Untertanen

Die Bevölkerung auf der Luzerner Landschaft stand dabei unter besonderer Beobachtung. Hier war die barocke Kultur mit ihren Wallfahrten und Heiligenkulten auch im 18. Jahrhundert noch stark präsent und galt als Ausweis der Katholizität. Entscheidender für das obrigkeitliche Kontrollbedürfnis war allerdings, dass die Landbewohner im Laufe der Frühen Neuzeit mehrmals gegen die städtische Herrschaft aufbegehrten. 1653, als sich die Untertanen auf der Landschaft im eidgenössischen Bauernkrieg zu einem konfessionsübergreifenden Bündnis zusammenschlossen, spielten die Entlebucher Bauern eine wichtige Rolle. 1712 stellten sich Luzerner Bauern, angetrieben von Geistlichen, erneut gegen den Rat, der sich im Konflikt mit den reformierten Orten zögerlich und kompromissbereit verhielt – und sich damit von den Bauern den Vorwurf der «Ketzerei» einhandelte.

Nach dieser Rebellion blieben grössere Unruhen aus. Das Misstrauen der städtischen Eliten gegenüber den ländlichen Untertanen blieb jedoch bestehen. Zusammenkünfte wurden als Vorboten möglicher Umsturzversuche durch eine sich aufwiegelnde Landbevölkerung gedeutet und rasch unterbunden. Die Lektüre religiöser Bücher schränkte der Rat ein, da deren Inhalt falsch interpretiert werden könnte. Überhaupt standen die Obrigkeiten der Bildung ihrer Untertanen ambivalent gegenüber. Einerseits förderten sie, in der Eidgenossenschaft zunächst vor allem in den reformierten Kantonen, im 18. Jahrhundert den Ausbau des Schulwesens. Andererseits fürchteten sie, dass gebildete Untertanen die bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellen könnten.

Spannungen und Ambivalenzen

Die Entwicklungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich schwer auf einen Nenner bringen. Die Zeit war genauso gekennzeichnet von konfessioneller Polemik wie von alltäglichen überkonfessionellen Kontakten, von unruhigen Untertanen wie von einer verstärkten obrigkeitlichen Kontrolle. Es war in dieser Gemengelage, in der Schmidlin katholische Glaubenspraxis mit neuen religiösen Ideen verband. Und es war in dieser Gemengelage, in der der Rat seine Macht über einen ländlichen Untertanen demonstrierte und einen religiösen Dissidenten als Ketzer verbrannte.

Daniel Sidler


Daniel Sidler

Dr. Daniel Sidler (Jg. 1986) ist Historiker und promovierte an der Universität Bern mit einer Arbeit zum frühneuzeitlichen Katholizismus in der Eidgenossenschaft. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt «Stadt.Geschichte.Basel». Aktuell ist er im Projekt zur Geschichte des Klosters Muri tätig.