Das berühmteste Gedicht des lateinischen Mittelalters
Mit dem nachtridentinischen römischen Messbuch von 1570 wurde die im Mittelalter entstandene Sequenz "Dies irae" für alle katholischen Begräbnismessen und Totengedächtnisse vorgeschrieben. Über vier Jahrhunderte hinweg erklang sie deshalb oft Woche für Woche, bisweilen sogar Tag für Tag. Kaum ein anderer Text hat eine so grosse kulturgeschichtliche Wirkung aufzuweisen wie das "Dies irae". Übersetzungen aus dem Lateinischen gibt es in 25 Sprachen, rund 500 allein in Deutsch und Englisch. 60 Vertonungen listet die Musikwissenschaft auf. Es heisst, dass Michelangelo diese Sequenz im Kopf hatte, als er die Sixtinische Kapelle ausmalte. Ein Kenner urteilt: Das "Dies irae" ist wahrscheinlich "das repräsentativste, kulturell folgenreichste und darum berühmteste Gedicht des lateinischen Mittelalters" (F. Rädle). Es entsprach ganz der Grundstimmung der damaligen Zeit, in der der sich seiner Schuld bewusste, vor dem Gericht Gottes bangende Mensch um Erbarmen und Gnade flehte. Die Sehnsucht nach Erlösung trotz Schuld fand seinen Ausdruck in dieser Sequenz. Immer mehr allerdings wurde nicht mehr diese Sehnsucht nach der Gnade Gottes aus dem "Dies irae" herausgehört, sondern es wurde quasi zum Paradigma für die "Zerstörung des vollen Erlösungsglaubens und der Verheissung der Gnade" (Joseph Ratzinger). Insbesondere das kirchliche Bewusstsein der Menschen des 20. Jahrhunderts entdeckte wieder den auferstandenen Christus als lebendiges Zeichen der schon gegenwärtigen Erlösung. 1955 beschränkte Pius XII. deshalb die Sequenz auf wenige Anlässe. Die Liturgiereform im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils nahm die Sequenz ganz aus der Begräbnisliturgie und den Totengedächtnisgottesdiensten. Heute findet sich das "Dies irae" nur noch versteckt als lateinische Auswahllesung in der Lesehore von Allerseelen. Jetzt, 50 Jahre nach ihrem Verschwinden aus der Liturgie der Kirche, lohnt sich ein unbelasteter Blick auf dieses berühmte Gedicht.
Was sagt die Sequenz?
Die ersten 17 Strophen bilden ein Reimgedicht, in dem ein Einzelner über das Jüngste Gericht nachsinnt. Es hat den Anschein, als ob dieses private Gedicht erst durch das Hinzufügen der letzten beiden Strophen, die eine Fürbitte für den Verstorbenen thematisieren, in die Totenliturgie eingebettet wurde. Die Strophen 1–7 entwerfen das Szenarium des Jüngsten Gerichts. Der Posaunenstoss in Strophe 3 ist Ausdruck, wie dieser Tag sein wird: Es ist ein Tag des Zornes. Ein grosser Weltbrand wird entfachen, der den ganzen Kosmos verglühen lässt. David und Sibylle als Repräsentanten der biblischen und heidnischen Prophetie werden als Gewährspersonen für diese Vision des Zeitenendes benannt. Die Ankunft des Weltenrichters wird die Welt erschüttern, die Posaune wird die Toten aus den Gräbern rufen, damit sie vor Gottes Thron Rechenschaft über ihr Leben abgeben. Bangend fragt der Betende: "Weh, was wird_ ich Armer sagen" (Strophe 7). Die Antwort darauf scheinen die Strophen 8–17 zu sein. Der Betende wendet sich nun direkt an Christus, denn hier hilft kein Schutzpatron, kein Anwalt, nur Christus selbst kann retten. Diesen Christus, der zum Heil der Menschen auf die Erde kam, erinnert er an das Gleichnis vom verlorenen Sohn und sein eigenes Leiden am Kreuz für die Sünde der Welt (Strophe 10). All das gibt ihm Hoffnung, denn ist nicht der Sünderin (Lk 7,36–50) und dem Schächer am Kreuz (Lk 23,43) verziehen worden (Strophe 12)? Sollte der Betende nicht auch dieses Erbarmen finden können: "lass mein Bitten Gnad_ erlangen", "dass ich mag der Höll’ entgehen". Strophe 15 und 16 erinnern an das matthäische Gerichtsszenarium, in dem der wiederkommende Menschensohn die versammelte Menschheit nach Gut und Böse trennen wird zum ewigen Leben oder zur ewigen Strafe. Doch statt wie der Evangelist Matthäus Heil oder Verderben ganz in die Hand des Menschen zu legen, bittet der Betende zerknirscht und beschämt um ein Handeln des Richters selbst: "stell mich zu den Schafen auf der Rechten", denn: "Ein zerbrochenes, zerschlagendes Herz wirst du nicht verachten" (Ps 51 [50], 19). Die beiden Schlussstrophen wechseln die Perspektive: Der Betende spricht nicht mehr für sich selbst, sondern für den, der zum Gericht auferstehen wird: "Lass ihn, Gott, Erbarmen finden." Strophe 19 weitet dies noch einmal aus auf alle Verstorbenen: "Milder Jesus! Herr, das tu: Allen gib die ew’ge Ruh’."
Schrecken und Grauen? Oder: Hoffnung und Gnade?
Die Betrachtung der Sequenz zeigt, dass in der kulturellen Rezeption vor allem die ersten Strophen mit ihrer Schilderung des Schreckens und Grauens am Jüngsten Tag beachtet worden sind. Die Folge ist eine grosse Entmutigung. Wenn es so am Ende der Zeiten sein wird, dann werde ich wohl kaum eine Chancen haben, das ewige Leben zu erlangen, so mag man denken. Der Fortgang der Sequenz zeigt aber, dass sich der Betende nicht abschrecken lässt. Er bestürmt Christus in Erinnerung seiner Barmherzigkeit. Denn er ist doch der "salvator", der Erlöser, er ist derjenige, der retten kann: "salva me, fons pietatis", heisst es in Strophe 8. Wie die Sünderin im Evangelium, die Jesus die Füsse salbte, oder wie der Schächer am Kreuz, die durch ihr Vertrauen gerettet wurden, so kann auch der Betende hoffen, dass er vor dem gerechten Gott Gnade finden wird.
Zum Weiterlesen: Alex Stock: Poetische Dogmatik. Christologie Bd. 4: Figuren. Paderborn u.a. 2001, 196–209.