Wie versteht sich Kirche und ist Kirchesein möglich in einer pluralistischen Gesellschaft? Welche strukturellen Prozesse sind jetzt für eine zukunftsfähige Kirche zu initiieren? Mit solchen Fragen beschäftigt sich das Zentrum für Kirchen- entwicklung (ZKE)* an der Universität Zürich. Die SKZ suchte das Gespräch mit Thomas Schlag, dem Leiter des Zentrums.
SKZ: Wo sehen Sie die Aufgabe(n) der Kirche im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft, von gesellschaftlichen Megatrends wie Pluralisierung, Mobilität und Digitalisierung?
Thomas Schlag: Die beiden grossen Kirchen befinden sich schon viele Jahrzehnte auf einem wachsenden, überaus dynamischen und kaum noch überblickbaren «Aufmerksamkeitsmarkt». Dies gilt für den Markt der medialen Präsenz ebenso wie für den Markt religiöser Angebote. Wir sind umgeben von einer enormen Vielfalt von Institutionen und Einzelpersonen, die für ihre Angebote um unsere Aufmerksamkeit werben, und dies mit immer raffinierteren Mitteln und Marketingstrategien. Zugleich suchen Menschen längst ganz selbstbewusst danach und wählen aus, was sie für ihre eigene Lebensorientierung an Religion brauchen und was eben auch nicht. Die reformierte Kirche muss sich insofern mit eigenständigen religiösen «Konsumenten» auf einem sehr weiten Markt religiöser Angebote auseinandersetzen. Durch die digitalen Entwicklungen beschleunigen sich die Dynamiken auf diesem Aufmerksamkeitsmarkt weiter. Digitale Religion dehnt sich zu einem globalen Echtzeitphänomen aus und führt zu einer beinahe unendlichen religiösen Diversifizierung. Die über Jahrhunderte hinweg gepflegte und weitergegebene kirchliche Praxis mit hohem Monopolanspruch kommt damit sichtbar an ihre Grenzen, wenn nicht sogar an ihr Ende.
Vor welchen grossen Herausforderungen stehen die Landeskirchen und die Gemeinden?
Wie jede Grossorganisation steht auch die reformierte Kirche mitsamt ihren Gemeinden vor der Herausforderung, mit den genannten postmodernen Individualisierungs- und Mobilitätsdynamiken proaktiv umzugehen. Nur wenn sie für ihre Angebote Aufmerksamkeit erzeugen und glaubwürdig präsent sind, werden sich die Kirchen auf dem Markt religiöser Angebote behaupten können. Dies ist allerdings keine wirklich neue Herausforderung, sondern dies machte bereits das frühe Urchristentum aus. Der Unterschied zu «damals» scheint allerdings darin zu liegen, dass die seinerzeitigen Verkündiger und christlichen Gemeinschaften weder von starren Strukturen gefangen waren, noch sich von der damaligen religiösen Marktsituation abschrecken liessen. Offenbar waren viele der damaligen Gemeinschaften auch von einem Heiligen Geist getrieben, den man heute unter den volkskirchlichen Repräsentanten und in den einzelnen Gemeinden oftmals mühsam suchen muss.
Welche grossen (Umbruch-)Prozesse nehmen Sie in den Landeskirchen und in den Gemeinden wahr?
Die Kantonalkirchen und Gemeinden befinden sich in einer Spannung zwischen fraglos notwendigen organisatorischen Umstrukturierungen einerseits und der Suche nach einem profilierten und attraktiven Programm andererseits – und dies alles bei schwieriger werdenden personellen und auch finanziellen Ressourcen. Mir fällt dabei auf, dass all diese Herausforderungen zwar mit viel Engagement angegangen werden, zugleich aber auch nicht weniges als mühevoll, belastend und nicht selten auch als frustrierend erlebt wird – oder doch zumindest von aussen wahrgenommen so erscheint.
Wo sehen Sie Chancen und Grenzen von «Fresh Expressions»?
Die sogenannten «Fresh Expressions», wie sie seit ca. 15 Jahren in der anglikanischen Kirche vor allem in England etabliert und finanziert werden, leben von der Grundidee, dass der christliche Glaube sich sozusagen mitten in den Lebenswelten der Menschen, im wahrsten Sinn des Wortes «auf der Strasse» zeigen und dort auch bewähren muss. Die Suche nach neuen Formen christlicher Gemeinschaft beginnt also damit, Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensvollzügen überhaupt erst einmal wahrzunehmen und ihnen deutlich zu signalisieren, dass sich Kirche um Menschen in allen Lebenslagen kümmert und dazu Lebensförderliches zu sagen hat. Dies entspricht dem Ursprungsauftrag des Evangeliums, dass dieses mitten unter den Menschen verkündigt werden muss. Problematisch ist allerdings, dass diese «Fresh Expressions» oft mit einem recht deutlichen Missionsprogramm verbunden sind, das mindestens die Gefahr neuer Ausschlusstendenzen mit sich bringen kann. Aber grundsätzlich wünscht man sich auch für die schweizerischen reformierten Kirchen einen solchen mutigen christlichen Geist des Aufbruchs zu den Menschen.
Angesichts schwindender Mitgliederzahlen und der vielen distanzierten Mitglieder in der Kirche werden Stimmen laut, die vom Ende der Volkskirche sprechen.
Man darf den Begriff der Volkskirche nicht mehr wie früher als Ausdruck für die christliche Mehrheitskirche verstehen. Die demografischen Verhältnisse erlauben es deshalb nicht mehr, von einer «Kirche des ganzen Volkes» zu sprechen. Allerdings liegt der tiefere Sinn des Begriffs darin, sich als «Kirche für alle» zu verstehen. Und dieses Selbstverständnis ist nicht von den Zahlen abhängig. Sondern «Volkskirche» meint, sich als Teil des Gemeinwohls und als Kirche im ganzen Gesellschafts- und Sozialraum zu verstehen. Sich als Volkskirche zu profilieren, zeigt sich also darin, dass sich Kirchen und Gemeinden mitverantwortlich für die Belange des gesamten Gemeinwesens und als Ansprechpartner für alle Grup- pen in der Gesellschaft verstehen.
Am 18. Dezember fand die Schlussabstimmung zur neuen Verfassung1 der Evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz (EKS) statt. Sie wird am 1. Januar 2020 in Kraft treten. Welche Impulse gehen von ihr aus?
Ob von einer Verfassungsform Impulse ausgehen, hängt davon ab, ob es Menschen gibt, die sich deren Grundsinn wirklich zu eigen machen: Zu recht sagt man: «Structure follows function», d. h., erst wenn die inhaltliche theologische Ausrichtung von Kirche klar und deutlich ist, dann machen auch die für die Umsetzung notwendigen Kirchenverfassungen und Kirchenordnungen Sinn. Insofern ist die Initiative einer EKS dann hilfreich, wenn bei allen beteiligten und verantwortlichen Akteuren durch die Zeilen der Verfassung hindurch echter Aufbruchsgeist und einfach auch der Stolz, Teil von Kirche zu sein, erkennbar wird. Ich sehe gegenwärtig allerdings eher die Gefahr, dass eine solche Initiative wegen persönlicher Animositäten, Besitzstandswahrung und mangelnden Vertrauens zum «kirchenleitenden Nächsten» zerredet wird.
Neben Forschungsarbeit unterstützt das ZKE Kantonalkirchen und Gemeinden in Entwicklungsprozessen.
Das ZKE-Team ist eng vernetzt mit der EKS und den reformierten Kantonalkirchen. Wir sind im Austausch mit Kirchenleitenden und Mitarbeitenden und stehen im Dialog mit weiteren protestantischen Kirchen. Wir unterstützen – übrigens nicht nur reformierte, sondern auch katholische – Kirchenleitungen und Gemeinden in ihrer Konzeptions- und Planungsarbeit anwendungsorientiert zu Problemstellungen und hoffnungsvollen Entwicklungsprozessen. In Beratungen und Gesprächen loten wir Brennpunkte und gemeinsame Fragestellungen aus und bieten Unterstützung und Begleitung in der Erarbeitung von Projekten.
Welche Entwicklungen sind in den protestantischen Kirchen weltweit zu verzeichnen?
Da wir mit Theologen im Bereich von Ekklesiologie und Kirchentheorie im In- und Ausland vernetzt sind, nehmen wir Reformentwicklungen und neue Arbeitsansätze anderer Kirchen in Europa sowie bis in die USA, nach Südafrika oder auch China wahr. «Erfolgreiche» christliche Gemeinschaften in vielen internationalen Zusammenhängen machen eindeutig klar, dass diese von einer vertrauensvollen Beziehungskultur und der ganz konkreten Solidarität untereinander leben. Seelsorge und ganz handfeste Solidarität mit den Nächsten und der Zivilgesellschaft gehen hier auf eindrückliche Weise «Hand in Hand».
Wie sehen Sie die Kirche der Zukunft?
Wie anfangs gesagt: Die religiöse Vielfalt nimmt immer mehr den Charakter religiöser Unübersichtlichkeit an. Dies ist für die volkskirchlichen Grossanbieter eine Herausforderung, die ganz neue Formen der «Marktpräsenz» notwendig macht – sowohl «Online» wie auch «Offline». Dies bedeutet auch, dass Reformüberlegungen nicht primär auf zentralisierende Strukturen setzen dürfen. Diese sind nur vermeintlich effektiv und haben höchstens kurzfristig Spareffekte und auf Dauer wird dadurch die Präsenz des Evangeliums mitten unter den Menschen ausgetrocknet. Es wird deshalb auch nicht genügen, auf anschauliche digitale Präsenz zu setzen, sondern gerade das Gegenteil ist der Fall: In unübersichtlicher werdenden, geradezu anonymen Zeiten wird nur eine christliche Botschaft, die von Beziehung, Begegnung, Hilfe und Authentizität lebt und dies auch überzeugend und freudig ausstrahlt, neue Attraktivität gewinnen.
Interivew: Maria Hässig