Am Übergang von Nord- nach Mittelbünden, zwischen den beiden Flusstälern des Vorder- und des Hinterrheins, thront auf einem Hügel am Rande einer Ebene die alte Talkirche Sogn Gieri, rätoromanisch für «Sankt Georg». Rund zwei Kilometer südlich liegt Schloss Rhäzüns, im Mittelalter das Zentrum einer Feudalherrschaft. Auf der Wanderung durch die weite Ebene zwischen Rhäzüns und Bonaduz hat man Zeit, im Mittelalter anzukommen.
Allmählich verdrängt die stille Natur die geschäftig brummende Siedlung. Auf den Hügel selbst führt ein schmaler Pfad, der gegen die Hügelkuppe hin zu einem steil ansteigenden Hohlweg wird. Oben angekommen sieht man neben dem Gemäuer des Kirchenschiffs nur Natur. Tief unten rauscht der Rhein. Im Mittelalter wirds nicht gross anders gewesen sein.
Umfangreiches Bildprogramm
Steigt man die steinerne Treppe hoch und tritt ins Kirchenschiff, glaubt man, die Türe zu einer Zeitmaschine aufgestossen zu haben: Das Kirchenschiff selbst stammt aus dem 12., der Chor aus dem 13. Jahrhundert. Malereien aus dem 14. Jahrhundert besetzen sämtliche Wände. Statt auf Kirchenbänken mit bequemen Lehnen sitzt man hier auf den Querbalken eines grossen Holzrosts aus der Entstehungszeit der Malereien, dessen Form an die damals übliche Konstruktion einer Balkendecke erinnert.
Selbstverständlich befinden sich auch Elemente aus späteren Zeiten im Raum: eine spätgotisch anmutende Leistendecke von 1731, der Korpus einer rechteckigen Kanzel aus der Mitte des 17. Jahrhunderts und ein bescheidenes Gestühl aus derselben Zeit. Der Flügelaltar im Chor, der ursprünglich in der Kirche von Tamins stand, reicht ins Jahr 1522 zurück.
Diese wenigen Zutaten aus späteren Zeiten stören die Wirkung des Raumes kaum, denn in Sogn Gieri unterwirft sich die Architektur der Malerei. Sie dient als Bildträger und schafft uns dadurch Zugang zu Gedankengebäuden des Mittelalters, erlaubt uns einen Blick in eine uns vollständig fremde Zeit.
Zwei Malerwerkstätten schildern den Gläubigen ihre Sicht auf Begebenheiten und Figuren aus der Bibel und der Legende des Kirchenpatrons, des heiligen Georg. Einige wenige Szenen gehen auf apokryphe Schriften zurück.
Die Malereien im Chor stammen aus der Werkstatt des sogenannten Waltensburger Meisters1. Sie sind weit besser erhalten als diejenigen im Schiff, die vom sogenannten – omen est nomen – Rhäzünser Meister in Kalktechnik auf den meist bereits trockenen Putz appliziert wurden. Die Werkstätte des Waltensburger Meisters malte al fresco, d. h. direkt auf den unmittelbar zuvor aufgetragenen und deshalb noch feuchten Verputz.
Über die genauen Datierungen der Fresken ist sich die Forschung uneins. Nur so viel scheint sicher: Die Werkstätte des Waltensburger Meisters arbeitete in der ersten Hälfte, diejenige des Rhäzünser in der zweiten des 14. Jahrhunderts. Dazwischen liegen die Pestjahre von 1349 und 1350.
Das Bildprogramm haben wohl kaum die Leiter der Werkstätten festgelegt und auch nicht die Auftraggeber, die auf Schloss Rhäzüns sassen und sich als Stifter in den Wandbildern verewigen liessen. Die Bildthemen werden von einem Kleriker festgelegt worden sein, dem Pfarrherrn von Sogn Gieri oder einem Bibelkundigen, der mit den Auftraggebern befreundet, wenn nicht sogar verwandt war.
Hierarchie der Bilder
Beim Waltensburger Meister fügt sich das Bildprogramm perfekt in die Architektur ein. Das Chorgewölbe zeigt die vier Evangelisten an Schreibpulten sitzend. Den Altarblock umstehen die zwölf Apostel, jeweils paarweise ins Gespräch vertieft. In den Bogenfeldern über der Apostelreihe finden sich Darstellungen der Epiphanie, der Kreuzigung und der Marienkrönung sowie eine zweiteilige Bilderfolge zu Äsops Fabel von Storch und Fuchs, deren Moral «Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!» lautet. Ganz zuoberst, auf dem Schlussstein des Gewölbes, der alles zusammenhält, ist das Haupt Christi abgebildet.
Im Chor tritt die Gottesmutter in der Marienkrönung und der Epiphanie auf. Im Schiff finden wir sie als Schutzmantelmadonna links vom Chorbogen, gleichsam als Retabel des Seitenaltars auf der Frauenseite. Auf der Männerseite nimmt diesen Platz Johannes der Täufer, der Schutzpatron der Hirten und damit der Viehzüchter unter den Kirchgängern, ein.
Oberhalb der beiden Andachtsbilder schildern Bildstreifen in drastischen Darstellungen die Martyrien des Kirchenpatrons, des heiligen Georg. Daran anschliessend wird oben an der Nordwand dessen Triumph über den Drachen besungen.
Die Malereien des Waltensburger Meisters sind klar hierarchisch gegliedert: Christus und die Evangelien im Chorgewölbe, die Apostel an den Chorwänden, biblische Figuren über den Seitenaltären, die Legende des Kirchenpatrons an der Chorbogenwand.
Sprunghafte Chronologie
Nachdem die Pestzeit überstanden war, wurden die restlichen Schiffswände durch die Werkstatt des Rhäzünser Meisters ausgemalt. Er hielt sich dabei viel weniger an die architektonischen Gegebenheiten, was ab und zu verwirrend wirkt. Links oben an der Rückwand des Schiffs beginnt die grösste zusammenhängende Bilderzählung. Der Rhäzünser Meister reiht chronologisch fünfzig (!) – zumindest aus der Sicht des Ideengebers – wichtige Szenen aus dem Alten und Neuen Testament aneinander. Der Zyklus beginnt mit der Erschaffung der Erde und endet mit dem Pfingstfest. Den endgültigen Abschluss bildet dann westlich der alten Eingangstüre das Jüngste Gericht.
Die Abfolge der Bilder springt zweimal von der Westwand an die Nordwand und wieder zurück, um beim dritten Mal an die obere östliche Ecke der Südwand zu hüpfen. Andachtsbildern gleich stehen in der Mitte des Schiffs zwei Kreuzigungsszenen einander gegenüber. An der Nordwand schliesst eine mit Wunden übersäte Christusfigur an die Kreuzigung an, umgeben von all den Werkzeugen und Gerätschaften, die man am Sonntag nicht verwenden darf, gefolgt von einer Gregorsmesse, welche die Verehrung der arma sacrae, der Leidenswerkzeuge, zum Thema hat. Feiertagschristus und Gregorsmesse haben sich ausserordentlich gut erhalten, was daran liegt, dass sie der Rhäzünser Meister hier ausnahmsweise auf den noch feuchten Verputz malte.
Seltsam unfertig erscheinen hingegen die Einzelbilder im untersten Register der Nordwand mit Erzengel Michael als Seelenwäger, einem Bildpaar zum Tod und zur Bestattung Mariens und der Darstellung des Sprungs des heiligen Georgs über den Rhein, der Bezug auf eine lokale Legende nimmt.
Während im vorderen Bereich des Schiffs die beiden grossen Einzelbilder des Waltensburger Meisters hinter den Seitenaltären dominieren, setzen im hinteren Bereich die sich gegenüberstehenden Kreuzigungen die stärksten Akzente. Alle weiteren Bilder des Rhäzünser Meisters lassen sich zwar von ihren Inhalten her auf das Ereignis der Kreuzigung beziehen. Im Gegensatz zu den Malereien im Chor und am Chorbogen wird hier aber die gedankliche Gliederung, die hinter den Malereien steckt, nicht in eine konsequent der Architektur angepasste Struktur umgesetzt. Die Sprünge von Wand zu Wand erschweren die Lesbarkeit der Bilderzählungen. Bei manchen Szenen bleibt der Bezug zum Ort, bzw. den umgebenden Bildern sogar rätselhaft. Die Kreuzigungsdarstellungen sind zwar sowohl an der Nord- wie an der Südwand Teil der Bilderzählung, aber nicht in das Gerüst der Bildstreifen integriert. Im Vergleich zu den Malereien im Chor scheinen sich die Zusammenhänge stark gelockert zu haben. Bezieht man diesen Wandel auf das epochale Ereignis in der Mitte des Jahrhunderts, scheint es, als ob in der Pestzeit die Ordnung verloren gegangen wäre.
Marc Antoni Nay