Eine Flüchtlingsfamilie in Ägypten

Giandomenico Tiepolo: Die Flucht nach Ägypten. Radierungen. Freiburg i. Br. 2007, Kat. Nr. 19.29.

Als Giandomenico Tiepolo in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Residenz der Würzburger Fürstbischöfe ausmalte, schuf er für seinen Dienstherrn eine Folge von Radierungen mit dem Thema «Flucht nach Ägypten». Auf 24 Blättern schildert Tiepolo, wie die Heilige Familie vor den Schergen des Herodes nach Ägypten flieht. Während das Neue Testament dieses Ereignis nur in wenigen Versen schildert, boten die apokryphen Legenden, die in das Pseudo-Matthäus-Evangelium und später in gekürzter Form in die «Legenda aurea» des Jakobus von Voraghine einflossen, dem Künstler reichlich Stoff. So etwa das Motiv der «Ruhe auf der Flucht» mit dem «Palmwunder»: Eine Palme neigt sich zur unter ihr ruhenden Familie, um sie mit ihren Früchten zu stärken. Ein anderes beliebtes Motiv nimmt Bezug auf die im Tempel von Hermopolis aufgestellten heidnischen Gottheiten, die beim Einzug der Heiligen Familie in Ägypten allesamt kopfüber in den Sand kippen oder zerbersten.

Die oben abgebildete Radierung gehört nicht zur Auswahl der 24 publizierten Blätter und existiert nur als Probedruck. Sie zeigt, wie das Flüchtlingspaar in einer bergigen Gegend mit dem Kind und dem Esel unter einer Palme Schutz sucht. Ein böiger Wind bauscht die Gewänder der beiden auf, sodass das Gesicht Josefs fast verdeckt wird. Stärker als in den andern Darstellungen wird hier die Dramatik eines Flüchtlingsschicksals in Szene gesetzt, in einer verstörenden Direktheit, die vielleicht auch der Grund dafür war, das Blatt nicht in die publizierte Serie aufzunehmen. Kein Wunder mildert das Flüchtlingsdrama – und die frontal dem Betrachter zugewandten Gesichter des Paares scheinen zu fragen: Was erwartet uns im fremden Land?

Eisodos: Äypten als Zufluchtsort

Wenn Mt 2,13–15 von der Flucht nach Ägypten erzählt, erinnern sowohl der Name Josef als auch das Motiv der Träume an den alttestamentlichen Josef, der schicksalshaft nach Ägypten gelangt und daselbst zum Traumdeuter und zum Vizekönig aufsteigt. Beide Josefgestalten finden notgedrungen in Ägypten Zuflucht, der eine als Sklave, der andere auf der Flucht vor den Mordbanden des Herodes. Beide werden in Ägypten zu Versorgern ihrer Nächsten. Doch damit nicht genug der alttestamentlichen Anspielungen: In Gen 12,10 zieht Abraham mit Sara während einer Hungersnot nach Ägypten, um dort sein Überleben zu sichern. Aus dem gleichen Grund schickt Jakob seine Söhne mehrmals nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Auch das Motiv, vor einem drohenden Mordanschlag nach Äypten zu fliehen, findet sich mehrmals im Alten Testament und in der ausserkanonischen Überlieferung: Der edomitische Königssohn Hadad flieht vor David nach Ägypten, wo ihm der Pharao ein Grundstück mit Haus schenkt und ihn fürstlich aufnimmt (1 Kön 11,17 f.). In 1 Kön 11,40 flieht der rebellische Jerobeam aus dem Palast Salomos nach Ägypten, um später nach Israel zurückzukehren und sich als König des Nordreichs proklamieren zu lassen (1 Kön 12,20). Weniger Glück hat der zur Zeit Jeremias wirkende Prophet Urija. Als er wegen seiner Reden fürchten muss, von König Jojakim umgebracht zu werden, flieht er nach Ägypten. Die Geheimdienstleute Jojakims jedoch stöbern ihn im Exil auf, bringen ihn zurück, wo ihn Jojakim mit dem Schwert erschlagen lässt. Aus hasmonäischer Zeit berichtet schliesslich Josephus Flavius, dass der letzte zadokidische Anwärter auf das Hohepriesteramt, Onias IV., als Flüchtling in Ägypten lebt und dort die Erlaubnis erhält, einen Tempel zu bauen (ant. XIII, 62 ff., 69 ff.).

Zweierlei Flüchtlinge

Viele der Flüchtlinge, die in Ägypten Zuflucht suchten, litten nicht nur Hunger, sondern fürchteten buchstäblich um ihr Leben. Matthäus stellt Jesus in diese Reihe. Was Herodes mit dem Kindermord anordnet, ist brutalster Terror.

Die aufgezählten Beispiele machen aber auch klar, dass nicht alle Flüchtlinge gleich behandelt wurden. Während ranghohe Flüchtlinge mit Haus und Dienerschaft (vgl. 1 Kön 11,8) versorgt wurden, mussten rangniedere Migranten vor dem ägyptischen Grenzbeamten buchstäblich zu Kreuze kriechen und um Asyl betteln, wie ein Relief- Ausschnitt aus einem ägyptischen Beamtengrab zeigt (vgl. Abb. Randspalte links oben).

Auch wenn die Flucht eines Gotteskindes sich vermeintlich am Modell der Hochrangigen orientieren könnte, so macht Matthäus mit einem Hosea-Zitat am Schluss seiner «Flucht-nach-Ägypten-Episode» klar, dass dem nicht so ist: «Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen» (2,15). Für den Neutestamentler Ulrich Luz ist dabei das Stichwort «Ägypten» genauso wichtig wie das Stichwort «Sohn» (vgl. «Das Evangelium nach Matthäus», Bd. I/1. Einsiedeln-Zürich-Köln 1985, 129). Unmissverständlich wird hier auf die Frühzeit Israels in Ägypten angespielt, auf die Leiden einer unterdrückten, semitischen Volksgruppe, für die Gott einsteht, mehr noch, sie als sein eigenes Kind bezeichnet (vgl. Ex 4,22) und sie aus Sklaverei und Unterdrückung befreit.

Exodus: Rettung aus Ägypten

In der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr., in der das Exodusgeschehen üblicherweise angesiedelt wird, übte Ägypten die Kontrolle über weite Teile Palästinas aus. Semitische Handwerker arbeiteten mal freiwillig, mal erzwungen am ägyptischen Hof. Die Flucht einer semitischen Gruppe aus Ägypten nach Palästina passt in diesen Kontext. Allerdings gibt es historisch keinerlei ausserbiblische Hinweise für einen Massenexodus auf der Sinai-Halbinsel, wie das demnächst wieder der neue Exodus-Film «Götter und Könige» suggeriert, der nach Weihnachten in den Schweizer Kinos anläuft.

Josef wird in einem weiteren Traum aufgefordert, nach dem Tod des Herodes mit dem Kind und seiner Mutter «in das Land Israel» zurückzukehren (Mt 2,19). Dieser Ausdruck «Land Israel» begegnet einem im Neuen Testament nur hier und erinnert noch einmal an die Herausführung des Mose aus Ägypten, durch die Wüste, hinein ins gelobte Land. Allerdings führt der Rückweg des jungen Jesus nicht in die Heimat Judäa, sondern die Heilige Familie zieht sich in ein Randgebiet zurück, in das halb heidnische Galiläa, nach Nazareth.

Syrische Flüchtlinge an Weihnachten 2014

Eine wahre Massenflucht erlebt dagegen seit vier Jahren Syrien als Folge der kriegerischen Ereignisse. Allein 3,2 Millionen Kinder, Frauen und Männer haben in den Nachbarländern Zuflucht gefunden. Davon leben über eine Million im kleinsten Nachbarland Libanon, 830 000 in der Türkei, 620 000 in Jordanien (vgl. Abb. Randspalte links), 215 000 im Irak und 140 000 in Ägypten. Ausser der Türkei kann keines dieser Gastländer als politisch stabil gelten. Dazu kommen ca. 6,5 Millionen Menschen, die innerhalb Syriens ihr Zuhause verlassen mussten. Das Ausmass der Katastrophe ist entsetzlich. Eine Beruhigung der Lage ist nicht in Sicht, schon gar nicht das Ende des Konflikts. Vor einigen Tagen hat das UNO-Welternährungsprogramm seine Nahrungsmittelhilfe für Syrienflüchtlinge gestoppt, weil ein Teil der Mitgliedstaaten die versprochenen Gelder nicht überwiesen haben. Und dies bei Einbruch des Winters – auch in den Ländern des Nahen Ostens. Die Schweiz gehört nicht zu den säumigen Zahlern der UNO. Dennoch brauchen die Flüchtlinge vermehrt auch unsere tatkräftige Unterstützung, unsere Solidarität, unsere Gedanken und unser Gebet in dieser weihnächtlichen Zeit – und darüber hinaus.


Literatur- und Abbildungshinweise:

Jürgen Ebach: Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Gen 37–50 und Mt 1–2. Stuttgart 2009

Garret Galvin: Egypt as a Place of Refuge (FAT II/51). Tübingen 2011

Giandomenico Tiepolo: Die Flucht nach Ägypten. Radierungen. Freiburg i. Br. 2007, Kat. Nr. 19.29.

Urs Winter (Bild: unilu.ch)

Urs Winter

Dr. theol. habil. Urs Winter ist emeritierter Dozent für Altes Testament und Einführung in die Weltreligionen am Religionspädagogischen Institut (RPI) der Theologischen Fakultät der Universität Luzern