Eine Zeit der Stille, um echt laut zu werden

«Stille Zeit» nannten die frühen Christen den Advent, die Tage, in denen sie sich vorbereiteten au fdas Fest der Ankunft des Herrn. Weihbischof Alain de Raemys Essay möchte diese Zeit in unser aller Fokus rücken.

Wenn jedes Ansehen verloren gegangen ist, wenn niemand mehr zuhören will, wenn es nicht einmal interessiert, wie könnte man da noch laut werden wollen?
Kann man überhaupt zu irgendeinem Thema Stellung nehmen, wenn man den eigenen Grundauftrag nicht nur schlecht oder gar nicht erfüllt, sondern diesem sogar widersprochen und ihn missbraucht hat?
Diese Erfahrung macht nicht nur eine Institution wie die Kirche, sondern auch der einzelne Mensch, der sich verfehlt hat und von seinen Mitmenschen kein Vertrauen mehr zurückgewinnen kann. Es scheint vorbei zu sein …

Die Zeit des Advents kommt uns zuvor

Wir wissen ja um Weihnachten. Und doch bereiten wir uns darauf vor wie auf etwas Neues, Unerhörtes, Unerwartetes. Wir kennen ja, was wir feiern werden. Und doch freuen wir uns darauf, wie wenn es uns zum ersten Mal verkündet würde.
Noch besser! Weihnachten sagt uns auch jenes Kommen an, das alles endlich und definitiv neu gestalten wird: die Wiederkunft Christi, das Kommen der neuen Welt, ja, einer endlich wirklich heilen Welt, wo keine Übel mehr getan und keine Tränen mehr fliessen werden.

Die Adventszeit ist aber eine Zeit der Stille. Sogar ihre volkstümlichen Lieder wirken zurückhaltend, sind ruhig und fast still. Es hat seinen guten Grund. Nur in der Stille kommt anderes zum Vorschein als das, was wir schon kennen, hören, sehen und schmecken. Ohne Stille verpassen wir die Neuigkeit, wir verpassen das «immer neu mögliche» Neue. Da geht es nicht um einen medialen Scoop, nicht um die neueste Nachricht! Sondern um jene Neuigkeit, die mich und dich innigst verwandeln kann. Aber ohne Stille merken wir nichts davon.

Auf die Weihnacht freuen wir uns immer wieder, sie bringt aber nur echt Neues mit sich, wenn wir stille halten und uns wieder überraschen lassen, dass ein Gott so menschlich werden kann. So menschlich! So, dass sogar das Menschsein in all seinen Grenzen völlig neu werden kann. Mit IHM, in IHM.

Ich glaube nicht, dass ich oder die Kirche selbständig tatsächlich neu werden können. Ich glaube, dass nur Gott uns alle immer neu, wirklich neu werden lassen kann. Da ist Weihnachten! Und auf sie bereitet uns der Advent, als Zeit der Stille, des Schweigens, der Betrachtung, des Zuhörens vor, sodass wir Gott sprechen lassen, dem Mitmenschen aber höchste Achtung schenken. Diese Stille braucht es, wenn wir von Gott her neu werden wollen. In Jesus. «Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen» (Apostelgeschichte 4,12).

Laut werden? Ja, immer, wenn es um Wahrheit und Gerechtigkeit geht. Da muss man auch mal geradezu schreien!
Es wird aber nichts echt Neues bringen, wenn wir nicht immer wieder still werden. Damit das Vertrauen aufs göttliche Neue wieder zugänglich wird, für mich, für alle. Es ist nicht vorbei, denn ER kommt.

+Weihbischof Alain de Raemy


Alain de Raemy

Alain de Raemy (Jg. 1959) studierte Philosophie und Theologie in Freiburg i. Ü. Am 25. Oktober 1986 wurde er in Freiburg zum Priester geweiht. Nachdem er von 1986 bis 1988 Vikar in der Pfarrei Saint-Pierre in Yverdon und von 1988 bis 1993 Pfarrer in solidum in Lausanne gewesen war, setzte er seine theologischen Studien an der Gregoriana und dem Angelicum fort. Von 1995 bis 2006 war er wieder in der Pfarreiseelsorge im Bistum Lausanne-Genf-Freiburg tätig. Am 1. September 2006 wurde er Kaplan der Päpstlichen Schweizergarde im Vatikan. 2013 ernannte ihn Papst Franziskus zum Weihbischof der Diözese Lausanne-Genf-Freiburg und am 10. Oktober 2022 zum Apostolischen Administrator der Diö-zese Lugano.