Vor einigen Jahren habe ich an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. ein Seminar über Häresien angeboten. Es wurde eines der bestbesuchten Seminare, das ich je durchgeführt habe. Was macht das Thema so attraktiv?
In unserer Zeit lassen sich Wahres und Falsches kaum eindeutig voneinander abgrenzen. Wir schätzen die Pluralität, auch wenn sie Gegensätze, ja sogar Unversöhnliches mit sich bringt. 1980 schrieb Peter Berger ein Buch mit dem Titel «Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft». Aus religionssoziologischer Sicht zeigt er auf, wie «modernes Bewusstsein eine Bewegung vom Schicksal zur Wahl» nach sich zieht. Religiöse Wahrheiten sind nicht länger selbstverständlich. Sie erfordern eine ausdrückliche Option durch persönliche Entscheidung. Nach Peter Berger leben wir geradezu unter einem «häretischen Imperativ».
Innerhalb der Gemeinschaft der Christen
Die Bibel scheint dieser Beobachtung Recht zu geben: «Es muss Häresien unter euch geben», schreibt Paulus an die Korinther (1 Kor 11,19). Bibelausgaben übersetzen den griechischen Terminus hairesis, der als haeresis auch ins Lateinische übernommen ist, in der Regel mit «Parteiungen», «Spaltungen». Paulus fügt die kritische Bemerkung hinzu: «[…] nur so wird sichtbar, wer unter euch treu und zuverlässig ist. Was ihr bei euren Zusammenkünften tut, ist keine Feier des Herrenmahls mehr» (1 Kor 11,19–20). Spaltungen als «Häresien» zerreissen den Leib Christi – in der Gemeinschaft der Kirche und folglich auch im Abendmahl. Sie müssen überwunden werden. Doch die Einheit des Leibes Christi ist kein Selbstzweck, und es geht auch nicht um eine Uniformität der Lehre. Das Neue Testament als solches kennt eine bunte Vielfalt von Bezeugungen des Glaubens. Einheit ist nötig, insofern sie für das Heil des Menschen relevant ist, für die Verbundenheit mit Jesus Christus, dem Erlöser. In dieser Gemeinschaft ist es sehr erwünscht, dass die Fülle der Charismen zur Blüte kommt. Auch Spannungen und Streitigkeiten sind nicht ausgeschlossen. Paulus selbst «widerstand Petrus ins Angesicht» (Gal 2,11), als dieser bei Ankunft der Juden nicht mehr gemeinsam mit den Heiden essen wollte.
Häresie ist also ein Phänomen innerhalb der Gemeinschaft der Christen. Ein Mensch, der sich nicht auf irgendeine Weise voll zum Christentum bekannt hat, sondern einfach eine andere Religion oder Weltanschauung vertritt, wird nicht der Häresie beschuldigt. Nicht einmal Gläubige anderer christlicher Konfessionen, an deren Ursprung vielleicht eine Häresie stand, werden dieser Anklage ausgesetzt; vielmehr wird anerkannt, dass ihre Gemeinschaft für sie der Weg zum Glauben geworden ist. Eine Häresie entsteht aus einer anerkannten Wahrheit, nicht durch eine Unwahrheit! Die Wahrheit wird zur Häresie, wenn sie aus dem allumfassenden («katholischen») Ganzen der Wahrheit herausgelöst und absolut gesetzt wird. Das entspricht dem griechischen Verb haireomai, das bedeutet: auswählen, bevorzugen.
Ein buntes Mosaik
Wir alle haben unsere Vorlieben im Glauben und treffen eine Art Auswahl in den Glaubenslehren, an denen wir uns orientieren. Niemand kann den ganzen Reichtum des Evangeliums gleichzeitig leben. Das kann und darf sein. Auch Gemeinschaften innerhalb der Kirche haben oft ein spezifisches Charisma: Benediktiner widmen sich in der Stabilitas ihres Klosters der Einheit von Gebet und Arbeit; Franziskaner betonen die Armut, Dominikaner das Studium und die Verkündigung, Jesuiten die Mission, die karitativen Frauenorden des 19. Jahrhunderts die Zuwendung zu den Bedürftigen, die Fokolarbewegung den Geist der Einheit usw. Daraus entsteht keinerlei Häresie, sondern ein Abbild der «vielgestaltigen Weisheit Gottes» (Eph 3,10).
Keine der Gründergestalten der genannten Orden, Gemeinschaften und Bewegungen ist auf die Idee gekommen, für ihre jeweilige Berufung eine eigene Kirche zu gründen. Gerade ihre Bereitschaft, die grössere «katholische» Wahrheit anzuerkennen, setzt die Kraft des besonderen Charismas im Rahmen der Kirche frei. Nichts spricht dagegen, dem protestantischen Reformimpuls einen ähnlichen Status mit einer weitgehend eigenständigen Leitungsstruktur einzuräumen. Kirchenreform, Rechtfertigungslehre, die zentrale Rolle des Wortes Gottes, das gemeinsame Priestertum usw. könnten durchaus als ein besonderes kirchliches Profil gepflegt werden. Nur müsste die Frage beantwortet werden: Seid ihr bereit, genau diese Berufung ohne ein Nein gegen die grössere «katholische» Tradition zu leben, mit der ihr ohnehin drei Viertel eurer eigenen Geschichte teilt? Seid ihr bereit, für das Ja zur grösseren Wahrheit einige geschichtlich realisierbare Zeichen der Communio zu setzen? Für die jetzige katholische Kirche wäre diese vollumfängliche Bejahung ein Verzicht auf antiprotestantische Profilierung, ein Schritt zur Entkonfessionalisierung und zu grösserer Katholizität. Noch leichter könnte die gegenseitige Bejahung bei den orthodoxen Kirchen fallen, die ohnehin bereits als «Schwesterkirchen» anerkannt sind, d. h. als Kirche Jesu Christi im katholischen Vollsinne des Wortes.
Ver-rückte Wahrheiten integrieren
Walter Nigg (1903–1988), der reformierte Pfarrer und Hagiograf, der aus protestantischer Perspektive die Bedeutung der Heiligen wiederentdeckte, schrieb kurz nach seinem Schlüsselwerk «Grosse Heilige» (1947) ein weiteres Buch unter dem Titel «Das Buch der Ketzer» (1949). Als Motto ist eine Aussage des hl. Augustinus vorangestellt: «Glaubt doch nicht, dass Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen könnten. Nur grosse Menschen haben Ketzereien hervorgebracht.» Ein Kapitel ist den «Katharern» gewidmet, einer Strömung im mittelalterlichen Christentum, die einen radikalen Dualismus vertrat und die negativ bestimmte Materie der Welt durch ein strenges asketisches Leben zu überwinden suchte. Deshalb wurden sie als «die Reinen» (katharoi) bezeichnet, und aus diesem Namen entstand das Wort «Ketzer». Ihre Wahrheit lag in einem eindrucksvollen Lebenszeugnis inmitten einer verweltlichten Gestalt der Kirche. Dominikaner und Franziskaner folgten dem Prinzip: «Leben wie die Ketzer, lehren wie die Kirche».
An diesem Motto lässt sich ablesen, wie die Kirche mit Häresien umgehen kann. Wenn Häresien nicht Unwahrheiten sind, sondern ver-rückte Wahrheiten, dann geht es darum, sie neu und besser in die Gemeinschaft der Glaubenden zu integrieren. «Löscht den Geist nicht aus!», lautet die biblische Mahnung an alle Verantwortlichen (1 Thess 5,19). Dazu sind in der Regel viel Liebe, Geduld und die Kraft zur Unterscheidung der Geister erforderlich. Wer konnte seiner Berufung sicherer sein als der hl. Franziskus? «Der Herr hat mir gegeben …», «Der Herr hat mir offenbart …», schreibt er wiederholt in seinen persönlichen Zeugnissen. Nicht dennoch, sondern gerade deshalb suchte er die Anerkennung seiner Gemeinschaft durch Papst Innozenz III. (1198–1216). Die Quellen bezeugen, wie der Papst den hl. Franziskus zunächst wegschickte und ihn aufforderte, eine der bestehenden Ordensregeln anzunehmen. Franziskus widersetzte sich nicht, sondern hielt die Spannung zwischen der Treue zu seiner Berufung und der Treue zur Kirche aus. Die Lösung stellte sich durch einen Traum des Papstes ein, der sah, wie Franziskus die einsturzgefährdete Laterankirche stützte. Daraufhin änderte der Papst seine Meinung und bestätigte die franziskanische Lebensweise.
Mit Weitblick mühte sich Papst Innozenz darum, nicht alle Vertreter der evangelischen Armut unterschiedslos als «Katharer» und damit als Ketzer zu behandeln. Sie wollten ja selbst der Kirche in ihrem Kampf gegen die Katharer durch Predigt und durch eine apostolische Lebensweise zu Hilfe kommen. Teile der Armutsbewegung konnten als die «Katholischen Armen» in der Gemeinschaft der Kirche Heimat finden. In anderen Fällen misslang die Integration, und es ist sehr schwer zu beurteilen, ob die Ungeduld der Betroffenen oder die Engherzigkeit der kirchlichen Instanzen dafür die Schuld trägt. Die glückliche Verbindung zwischen der Demut des Franziskus und dem Weitblick eines Papstes liess jedenfalls den franziskanischen Reformimpuls für die ganze Kirche fruchtbar werden – und führt bis hin zu unserem heutigen Papst Franziskus, durch den ein franziskanischer Lebensstil zum Aufruf für die ganze Kirche wird!
Barbara Hallensleben