«Früher in guter Hoffnung − heute in grosser Sorge»

Hebammen erleben und begleiten täglich hautnah die Geburt eines Kindes. Sandra Büchler ist Hebamme und Pflegemanagerin der Gebärabteilung im Spital Uster. Mit ihr sprach die SKZ über Schwangerschaft und Geburt.

SKZ: Erblickte heute schon ein Kind das Licht der Welt?
Sandra Büchler: Ja, und das zweite Kind ist unterwegs, die Geburt ist am Laufen. Wir haben zwei bis drei Geburten pro Tag, insgesamt rund 900 pro Jahr.

Was bedeutet für Sie der Moment, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt?
Ich bin seit zehn Jahren ausgebildete Hebamme, aber die Geburt ist immer noch ein besonderer Moment. Klar gibt es berufliche Routine, aber der spezielle Augenblick bleibt. Ich darf an einem einzigartigen Moment im Leben werdender Eltern teilnehmen, sie begleiten und unterstützen. Auch für die Eltern werden wir Hebammen zu wichtigen Bezugspersonen, das merke ich jeweils, wenn ich in der Stadt von Frauen angesprochen werde. Viele kennen mich noch mit Namen. Eltern sind bei der Geburt ihres Kindes sehr emotional, offen und unendlich dankbar.

Was hat Sie bewogen, Hebamme zu werden?
Ich wollte schon immer Hebamme werden. Am Ende der Sekundarschule war für mich die Matura keine Option. Die Ausbildungen im Gesundheitsbereich konnte man damals aber erst mit 18 Jahren beginnen. Mir wurde die KV-Lehre als gute Grundausbildung empfohlen. Nach der Lehre wollte ich zuerst etwas Geld verdienen. Eine HR-Ausbildung kam dazu, und ich machte berufliche Karriere.

Wann und wie kam es dann zum Berufswechsel?
Mit 30 Jahren. Meine Arbeit befriedigte mich nicht wirklich. In der Zeit stand gerade die Umstellung der Hebammenausbildung auf Fachhochschulniveau an, die neu die Matura voraussetzte. Ich wusste, wenn nicht jetzt, werde ich nie Hebamme. Ich fand Aufnahme im zweitletzten Kurs der Hebammenausbildung in Chur. Aber der Rollenwechsel von meiner Tätigkeit im HR-Bereich in einer grossen Firma zu einer Lernenden war nicht ganz einfach. In der Hebammenausbildung fliessen alle Situationen und Tätigkeiten in die Standortgespräche und Beurteilungen ein. Bei jedem Handgriff wird überprüft, ob er sitzt.

Was begeistert Sie am Hebammenberuf?
Der Prozess von der befruchteten Eizelle bis zur Geburt. Was passiert während der Schwangerschaft im Mutterleib? Wie bildet sich aus dieser Eizelle ein Mensch? Die Begleitung dieses Prozesses fasziniert mich sehr. Mutter und Kind bilden zusammen ein perfekt symbiotisches System.

Was gehört alles zum Aufgabenfeld einer Hebamme?
Als Hebamme bin ich Fachfrau für Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Unsere Aufgabe ist es, die Frau während der Schwangerschaft, der Geburt und im Wochenbett zu begleiten. Solange die Schwangere gesund ist und keine Risikofaktoren vorliegen, darf die Hebamme die Kontrollen eigenverantwortlich durchführen. Die Ultraschalluntersuchungen werden jedoch von den Gynäkologinnen gemacht.

Wie kontrollieren Sie denn?
Wir überprüfen durch Abtasten und Messen des Mutterbauches das Wachstum des Kindes und dokumentieren den Verlauf. Auch hören wir die Herztöne des Kindes mit einem speziellen Gerät ab. Dann werden in jeder Kontrolle der Blutdruck und der Urin überprüft, um gewisse schwangerschaftsspezifische Erkrankungen auszuschliessen. Eine der wichtigsten Aufgaben in der Schwangerschaftsbetreuung ist jedoch die Aufklärung und Beratung der Frauen.

Aufklärung?
Ja, die Frauen holen sich heute viele Informationen aus dem Netz und werden aufgrund der dort teilweise kursierenden «Horrorgeschichten» über Schwangerschaft und Geburt total eingeschüchtert und ängstlich. Als Laien können sie den Weizen nicht von der Spreu trennen, die Informationen aus dem Netz nicht filtern. Da müssen wir wirklich Aufklärungsarbeit leisten und die Schwangeren gut beraten. Früher war die Frau – so sagte man – in guter Hoffnung, heute ist sie in grosser Sorge. Es braucht ein gewisses Gottvertrauen. Es ist nicht möglich, das Risiko während einer Schwangerschaft auf Null zu senken. Und hier haben wir eine wichtige Aufgabe: Die Frauen von der Angstwolke herunterzuholen, sie zu stärken, zu motivieren, auf ihren Körper zu hören und bewusst mit dem Kind Kontakt aufzunehmen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der fast alles möglich, planbar und bestimmbar ist. Sich dem natürlichen und nicht planbaren Prozess von Schwangerschaft und Geburt zu überlassen, damit haben viele Frauen Mühe. Unser Wunsch ist es, dass die Frau bereits in der Frühschwangerschaft Kontakt mit einer Hebamme aufnimmt und sich von ihr während der Schwangerschaft beraten und begleiten lässt. Wenn Fragen oder Unsicherheiten auftauchen, ist es sinnvoller, diese direkt mit der Hebamme zu besprechen, als auf eigene Faust im Internet zu recherchieren. Dieser uneingeschränkte Zugang zu Informationen überfordert die Schwangeren und macht sie nur noch ängstlicher, anstatt sie zu stärken. Manchmal verweise ich auch auf unsere Grossmütter und Urgrossmütter, die im zweiten Weltkrieg unter Bedingungen harter körperlicher Arbeit, einseitiger und knapper Ernährung gesunde Kinder auf die Welt brachten. Die Plazenta sorgt gut für das werdende Kind.

Welches war Ihre anspruchsvollste Erfahrung als Hebamme?
Die Begleitung von Schwangeren mit einer Totgeburt gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben einer Hebamme. Wenn das Kind im Mutterleib gestorben ist und die Frau dieses Kind gebiert, kann ich sie nicht motivieren, dass sie am Ende der Geburt ihr Kind lebend in den Armen halten wird. In der heutigen Gesellschaft ist der Tod ein Tabuthema, deshalb haben viele Eltern Mühe, nach der Geburt mit ihrem verstorbenen Kind Kontakt aufzunehmen, es anzusehen oder sogar zu berühren. Hier habe ich als Hebamme die Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen und den Eltern zu zeigen, wie sie mit ihrem Kind umgehen können. Diese Kontaktnahme mit dem verstorbenen Kind ist enorm wichtig im Trauerprozess. Es ist die einzige Zeit, welche die Eltern je mit ihrem Kind verbringen werden. In meiner Diplomarbeit habe ich mich intensiv mit diesem Thema «Begleitung bei Kindsverlust» auseinandergesetzt. Weil man selbst überfordert ist, macht man vieles falsch, braucht Floskeln wie «Sie können noch weitere Kinder haben». Der Fokus muss ganz auf die jetzige Situation gerichtet sein, diese Frau, dieses Kind. Oft sind die Eltern nach der Diagnose wie traumatisiert und bekommen die Geburt und den Abschied vom Kind gar nicht lückenlos mit. Aus diesem Grund bieten wir eine Nachbesprechung an und erzählen ihnen von der Geburt und der Zeit danach. Wenn ich es schaffe, den Eltern einen Zugang zu ihrem verstorbenen Kind zu ermöglichen, dann war die Geburt auch in dieser Situation eine wertvolle Erfahrung.

Wie gehen Sie mit solchen Grenzerfahrungen um?
Nach sehr schwierigen Situationen machen wir jeweils eine Fallbesprechung. Wir unterstützen uns gegenseitig innerhalb des Teams. Jede Hebamme weiss, um was es geht, kennt schwierige Situationen aus eigener Erfahrung. Das Gespräch im Team ist äusserst hilfreich und trägt sehr. Wir können auch die Spitalseelsorgerin einbeziehen, für uns selber oder für die Eltern. Zu einer Nottaufe musste ich die Spitalseelsorgerin aber noch nie rufen. Wir Hebammen dürfen ja in Notsituationen auch taufen, aber ich kam noch nie in diese Situation.

Wie beziehen Sie die Väter in Ihre Aufgabe ein?
Männer sind tendenziell tätigkeits- und lösungsorientiert, aber bei einer Geburt ist dies etwas weniger gefragt. Es gilt, die Geburt auszuhalten, die Frau emotional zu unterstützen. Wenn der Mann stolz auf seine Frau ist, auf das, was sie jetzt gerade leistet, und dem auch Ausdruck verleiht, beflügelt dies die Frau ungemein. Gegen Ende einer Geburt kommuniziere ich mit den Vätern oft nonverbal – mit Blickkontakt, dass alles in Ordnung sei. Sie haben ihre Partnerin noch nie in dieser Extremsituation erlebt, eine ganz neue Seite der Frau offenbart sich ihnen.

Das Fest der Geburt Jesu steht vor der Türe. Inwieweit prägt der Glaube Ihre Arbeit?
Gottvertrauen ist mir wichtig und eine positive Haltung zum Leben und zu meiner Arbeit. Es gab noch nie eine Situation, die so schwierig war, dass ich mich nachher fragte, ob Hebamme noch der richtige Beruf für mich sei. Auch Hebammen können traumatische Erfahrungen machen, mit der möglichen Konsequenz, dass der Beruf aufgegeben wird. Ich befand mich schon oft in komplexen Situationen, aber am Schluss waren Mutter und Kind wohlauf. Ein Beispiel: Bei einer Frau kamen die Wehen sechs Wochen zu früh, sie war im Zug unterwegs. Auf dem Bahnhof platzte die Fruchtblase und sie verlor ziemlich viel Blut. Glücklicherweise war sie innert kürzester Zeit bei uns im Spital. Eine Blitzoperation erfolgte. Dabei wurde entdeckt, dass sich die Plazenta vorzeitig gelöst hatte. Das Kind brauchte am Anfang etwas Unterstützung bei der Atmung, aber es hat sich gut erholt und ist heute kerngesund. Trotz der dramatischen Situation gab es ein gutes Ende. Die Frau hatte Glück im Unglück und war – Gott sei Dank – zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Interview: Maria Hässig


Interview-Partnerin Sandra Büchler

Sandra Büchler (Jg. 1974) wirkt seit gut zehn Jahren als Hebamme am Spital Uster. Einen Teil ihrer Ausbildung absolvierte sie an diesem Spital und hatte im Anschluss an die Ausbildung die Möglichkeit, zuerst befristet, dann unbefristet hier weiterzuarbeiten. Sie ist aktuell Pflegemanagerin der Gebärabteilung.

 

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