In den letzten Monaten wurde die Tagesaktualität vom Wort Corona bestimmt. Niemand kann sich diesem Virus entziehen. Was sich vor einem Jahr kein Mensch vorstellen konnte, ist nun Wirklichkeit geworden. Sichtbar und spürbar wird unser Alltag von einem für viele unsichtbaren und irgendwie unheimlichen Etwas geprägt.
In kirchlichen Gemeinschaften sind wir direkt betroffen, wenn es darum geht, uns zum Gottesdienst zu treffen. So absurd es ist, wir müssen die Menschen bitten, nicht mehr aktiv an gottesdienstlichen Feiern teilzunehmen, weil die Zahl der Teilnehmenden durch staatliche Massnahmen beschränkt ist. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn wir nur die Liturgie in den Fokus nehmen. Das Pfarreileben als Ganzes ist eingeschränkt, Bildungsveranstaltungen müssen in anderer Form stattfinden und werden nicht selten abgesagt. Seniorinnen und Senioren dürfen sich nicht mehr wie üblich treffen, Jugendgruppen müssen ihr Verhalten verändern und katechetische Aktivitäten müssen neu gestaltet werden. Der Glaube als Ganzes ist herausgefordert.
Manchmal stosse ich an meine Grenzen. Ich gehöre nicht zur Gruppe der Verschwörungstheoretiker und auch nicht zu den Menschen, die auf der Suche nach Verantwortlichen für diese Pandemie Gott ins Spiel bringen. Und doch – ich gebe es gerne zu – beginne ich manchmal zu zweifeln. Der Glaube an einen Gott, der mit uns Menschen verbunden ist und das Gute für uns will, wird auf die Probe gestellt. Schatten des Zweifels legen sich über das Licht des Glaubens.
Da bin ich dankbar für einen Beitrag des Trierer Moraltheologen Johannes Brantl.1 Der Zweifel stelle eine Art besänftigendes Korrektiv für den allzu sicheren Glauben dar. Ihm komme eine positive und notwendige Funktion zu, insofern er Ausdruck von Selbstbescheidung sei und helfe, die Grenzen des eigenen Erkennens und Wissens anzunehmen. Ganz anders sah das das Erste Vatikanische Konzil in seiner dogmatischen Konstitution «Dei Filius». Danach kommt ein im Glauben Unterrichteter nicht ohne schwere Sünde in den Zustand des Zweifels bezüglich einer Wahrheit, die vom unfehlbaren Lehramt der Kirche zum Glauben vorgelegt ist. Für den Katechismus der katholischen Kirche von 1993 besteht der freiwillige Glaubenszweifel «in der Vernachlässigung oder Weigerung, für wahr zu halten, was Gott geoffenbart hat und die Kirche zu glauben vorlegt» (Nr. 2088).
Nun ist Glaube zuerst nicht die Zustimmung zu einer als wahr erkannten Lehre, sondern ein personales Geschehen. Es geht um eine persönliche Antwort von uns Menschen auf die Liebe Gottes. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) konnte in seiner 1968 erschienenen Einführung in das Christentum schreiben, dass keiner dem Zweifel ganz und keiner dem Glauben ganz entrinnen könne. Zweifel ist also durchaus möglich und stellt nicht einfach so eine Sünde dar. Papst Franziskus bekräftigt diese Sicht, wenn er in seinem nachsynodalen apostolischen Schreiben «Christus vivit» an die Jugendlichen und das ganze Volk Gottes schreibt: «Es macht ihm (dem Herrn) nichts aus, wenn du ihm gegenüber deine Zweifel äusserst. Das, was ihn beunruhigt, ist, dass du nicht mit ihm redest, dass du dich nicht aufrichtig für den Dialog mit ihm öffnest» (Nr. 117).
Lassen wir also den Zweifel zu und stellen wir uns in eine lange Reihe von sympathischen Zweiflern, angefangen bei Mose, Elija, Jeremia, Jona und Hiob bis hin zu heiligen Menschen unserer Zeit wie Mutter Theresa. Der Zweifel auch in Zeiten der Corona-Pandemie soll uns nicht in Distanz zu Gott bringen, sondern uns ermutigen, mit ihm im Gespräch zu bleiben.
Richard Lehner