Als Mose merkte, dass seine Tage zu Ende gingen, berichtet eine jüdische Legende, habe er dreizehn Torarollen geschrieben. Zwölf verteilte er an die Stämme Israels, die dreizehnte legte er zur Aufbewahrung in einen Schrein, «damit man im Falle einer Fälschung die richtige Version dort nachlesen und die Wahrheit prüfen könne».1
Aber wozu diese Mühe, da doch die Worte des Bundesschlusses in Stein gemeisselt in der Bundeslade lagen? Diese in Stein geschriebene, unveränderliche Fassung war nicht das Original; ihr ging das gesprochene und vom ganzen Volk gehörte Gotteswort voraus.
Hört, und ihr werdet leben! (Dtn 4,1)
Die grossen Reden des Deuteronomiums erinnern daran, dass am Sinai das ganze Volk gleichzeitig die Gottesstimme hörte: «Der Herr sprach zu euch aus dem Feuer. Den Schall der Worte habt ihr gehört, nur einen Schall, doch eine Gestalt habt ihr nicht gesehen» (Dtn 4,12). Die zehn Worte des Dekalogs beginnen nach der Selbstvorstellung Gottes mit der direkten Anrede «darum sollst du …» (oder in hebräischer Diktion: «Du wirst doch …»; Ex 20,1–17; Dtn 5,6–21). Dieser Anspruch einer nationalen, nicht nur individuellen Offenbarung am Sinai ist einmalig und wurde über Jahrhunderte als prägender Teil der Geschichte Israels anerkannt; kein anderes Volk hat eine solche nationale Offenbarung beansprucht. «Heute ist es uns geschehen, dass Gott zu Menschen sprach und sie am Leben blieben» (Dtn 5,24). Von der Macht des Gehörten erschüttert bitten die mit dem Leben Davongekommenen Mose «unter Furcht und Zittern», an ihrer Stelle vor Gott zu treten: «Geh du allein hin! Höre alles, was der Herr, unser Gott, sagt. Berichte uns dann alles (…), und wir werden es hören und halten» (Dtn 5,27; vgl. Ex 20,1.19). So wird Mose Dolmetscher und Vermittler der Tora. Der Gedanke dieses «aus zweiter Hand» vermittelten Gesetzes ist später für Paulus Grund für seine heilsgeschichtliche Relativierung als «Zuchtmeister», wenn er den Galatern schreibt: «Das Gesetz wurde durch Engel erlassen und durch einen Mittler bekannt gegeben» (Gal 3,19). Auch die Niederschrift auf zwei steinerne Tafeln – nach dem Bundesbruch Israels von Mose zerschmettert und nochmals geschrieben – genügte nicht.
Vielmehr muss das Gotteswort je neu verkündet und gehört werden, damit es lebendig bleibt. Gesprochene Worte können ganz anders treffen und nachwirken als Geschriebenes. Sie lösen Emotionen aus und haften im Gedächtnis. Verkünden und Hören setzt eine Konfrontation voraus, das Eintreten in einen Dialog. Das «Sch’ma Israel – Höre, Israel» wird zum Weckruf und Bekenntnis Israels (Dtn 6,4). Im täglichen Hören werden die Worte Gottes aktuell, wird die Vergangenheit zum herausfordernden «Heute»: «Ach, würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören!» (Ps 95,7).
Das vorgelesene Buch
Das Buch Nehemia berichtet eine berührende Szene: Die aus dem babylonischen Exil Heimgekehrten versammeln sich in Jerusalem auf dem Platz zum Wassertor und bitten den Schriftgelehrten Esra, «das Buch der Weisung des Mose» zu bringen. Vom frühen Morgen bis zum Mittag liest Esra vor, sekundiert von Leviten, die abschnittweise erklären, sodass die Leute das Vorgelesene verstehen können: «Die Ohren des ganzen Volks waren auf das Buch der Weisung gerichtet (…), und man verstand, was vorgelesen wurde.»2 Beim Öffnen des Buches erheben sich alle und antworten auf Esras Lobpreis mit «Amen! Amen!». Doch dann weint das ganze Volk betroffen von diesen – vergessenen oder im Exil nie vernommenen – Worten. So ermutigt sie Esra: «Seid nicht traurig und weint nicht! (…) geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süssen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben, denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke! » (Neh 8,1–12). Die Verkündigung der Tora soll die Hörenden nicht mit Forderungen erdrücken, sondern Freude und Lebensmut wecken, soll «zum Lobgesang im Haus der Pilgerschaft (…), zum Licht auf dem Weg» werden (Ps 119,54.105).
«Hört, ihr Himmel! Erde, horch auf!, denn der Herr spricht»: So beginnt die Botschaft des Buches Jesaja. Es ist vor allem Deuterojesaja, der immer wieder ruft, «Hört ihr es nicht? (…) Jakob, höre auf mich, höre mich Israel (…). Hört auf mich, ihr Inseln, ihr Völker in der Ferne (…), hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt und die ihr den Herrn sucht» (Jes 40,21: 48,12; 49,1; 51,1). Nur der aufmerksam Hörende vermag die Konturen des kommenden Neuen zu erkennen.
Ohren, zu hören
Jesus selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen. Erst nach dem Tod der Augenzeugen entstand das Neue Testament, damit die Botschaft Jesu schriftlich festgehalten für kommende Generation nicht verloren gehe. Der Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu beginnt nach Lukas in der Synagoge von Nazaret, wo Jesus zur Prophetenlesung aufsteht (die jedem männlichen Erwachsenen erlaubt war), ans Lesepult tritt und aus dem Buch Jesaja vorliest. Feierlich langsam schliesst er die Schriftrolle, gibt sie dem Synagogendiener zurück und setzt sich. Aller Augen sind auf ihn gerichtet, als er verkündet: «Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.» Diese kürzeste Predigt löst Überraschendes aus: allgemeinen Beifall, Staunen, Betroffenheit, eine heftige Diskussion, die in einem wütenden Attentatsversuch und dem Weggang Jesu endet (Lk 4,16–30). Immer wieder beendet Jesus seine Gleichnisse mit der aramäisch-hebräischen Redewendung: «Wer Ohren hat, der höre!» (Mt 13,9.43 u. ö.). Der gleiche Weckruf erklingt in den sieben Sendschreiben der Offenbarung: «Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!» (Offb 2,7.11.17.29; 3,6.13.22).
Im Zeitalter der SMS, der schnellen «paste and copy»-Plagiate und der E-Mail-Flut, der digitalen Fernstudien, aber auch der durch dröhnende Bässe aus Kopfhörern zunehmend taub werdenden Ohren ist das Hören und Zuhören zur Kunst geworden. Hören ist nicht nur ein akustisches Geschehen, sondern ein Aufnehmen geistigen Sinns, unerlässlich für Sprache und Sozialisation. So lernten vergangene Generationen aufmerksam hörend die Tora, ja die ganze Bibel auswendig. Wie in der biblischen Weisheitstradition beginnt auch die Benediktregel mit dem Aufruf: «Höre, mein Sohn …» (Prolog 1; vgl. Spr 4,20), und Franz von Sales meint in seiner «Philothea»: «Sicher ist jedenfalls, dass unser Herz durch das Ohr atmet» und darum Hören ein besserer Weg zum Lernen sei als das Studium (DaSal 1,159; 1,28). Seit der Liturgiereform werden bis zum heutigen Tag die Schrifttexte im Gottesdienst vorgelesen um auf diese Weise als «Wort des lebendigen Gottes» gehört zu werden. Wie die biblische Weisheit im Lärm der Strassen zum Hören ruft (Spr 1,20), soll auch das Predigtwort die Ohren öffnen. Doch müsste nicht – um das wirklich Entscheidende zu verstehen und nicht zu vergessen – auch heute um ein «hörendes Herz» gebetet werden, wie es einst Salomo tat (1 Kön 3,9)?