Innig und mystisch vertont

Hirtenmessen und Kantaten ertönen an Weihnachten. Alois Koch zeigt, wie Mozart und Haydn die Krippenszenen musikalisch darstellen und wie sich Beethoven und Bruckner dem Mysterium der Inkarnation annähern.

Detail des Originalnotenblatts von J. S. Bachs Messe in h-moll BWV 232, Et incarnatus est. (Bild: zvg)

 

Kein anderer Festkreis ist so unmittelbar mit Musik verbunden wie Weihnachten. Ursprünglich zur Gestaltung der drei Weihnachtsmessen1  entstanden, wurde sie im Verlaufe der Zeit zu einer weite Bevölkerungsschichten umfassenden Weihnachtsatmosphäre. Sinnbild dafür ist wohl das 1818 komponierte, allgegenwärtige «Stille Nacht». Der liturgische Fokus von Weihnachten hingegen ist das Et incarnatus est im Credo. Im Folgenden soll dieses Zentrum der Messe-Vertonungen näher ins Bewusstsein gebracht werden.

Das Ordinarium Missae in der Musik

Im Verlaufe ihrer mehr als 500-jährigen Geschichte entwickelte die mehrstimmige Messevertonung eigentliche Topoi zu liturgischen Inhalten. So ist schon bei Palestrina und noch deutlicher bei Orlando di Orlando das dreiteilige Kyrie in der ersten und letzten Bitte um Erbarmen komplexer als in der Anrufung des Mensch gewordenen Christus. Im Gloria folgt die Musik meist kontrastreich dem himmlischen Gotteslob und dem menschlichen Flehen, um in der abschliessenden Doxologie wieder aufzuschwingen. Die Vertonung des Sanctus kennt zwei Ansätze, entweder den klangmächtigen Lobgesang der biblischen Engelchöre oder dann die mystische Verehrungsgeste, deutlich etwa in den beiden Messen L. van Beethovens. Im Agnus Dei knüpfen die ersten beiden Bitten, oft auch das abschliessende Dona nobis pacem bei der musikalischen Gestaltung des Kyrie an, wobei hier von Bach bis Bruckner das persönliche Element das liturgische dominiert.

Der Sonderfall Credo

Ein Sonderfall in der Messekomposition ist spätestens seit dem Barock das Credo. Bot die musikalische Realisierung der weit ausholenden dogmatischen Aussagen im Zeitalter der linearen Polyphonie (16./17. Jh.) noch keine interpretatorischen Schwierigkeiten, wächst mit Beginn der Subjektivierung der Kunst (18. Jh.) der Anspruch an die musikalische Umsetzung. So ist es symptomatisch, dass J. S. Bach in seiner h-moll-Messe BWV 232 zu Beginn des Credo auf den sogenannten alten Stil zurückgreift und dann die Dogmatik des Schlussteils mit Fugen2 artikuliert. Und noch Beethoven3 drückt in seiner Missa solemnis op. 123 die Unveränderlichkeit der Glaubenssätze mit gregorianischen Bezügen aus. Auch spätere Komponisten wie etwa Anton Bruckner benutzen dieses historistische Stilmittel, um damit die Allgemeingültigkeit des Nicänischen Glaubensbekenntnis zu signalisieren, wobei sowohl bei Beethoven wie bei Bruckner das persönliche Erleben musikalisch mitspielt. Franz Schubert seinerseits umgeht für ihn nicht nachvollziehbare Aussagen4, indem er sie überspringt.

Völlig anders hingegen stellen sich die biblischen Passagen des Credo dar. Weihnachten, Passion, Ostern und Himmelfahrt sind Paradebeispiele für die Bildlichkeit wortgebundener Musik. Sie findet sich schon in der Renaissance-Musik, hier mit dem Stilmittel der Figurenlehre5, sie wird im Barock zum opernhaft-dramatischen, in der Wiener Klassik und in der Romantik zum expressiven oft auch volkstümlichen (Pastoralmessen), gar zum theologischen (Beethoven) oder zum mystischen (Bruckner) Klangbild.

Die Klassiker Mozart und Haydn

Mozart- und Haydnmessen gehören zu den am häufigsten aufgeführten lateinischen Messen, auch heute noch. Die Auseinandersetzung mit ihnen bzw. mit ihren Vertonungen des Et incarnatus est offenbaren immer auch ihr ganz persönliches Verständnis von Kirchenmusik. Da Mozart insgesamt 18 Messevertonungen komponiert hat, beschränkt sich die Darstellung hier auf folgende drei Messen: Missa solemnis in c-Moll KV 139, die Krönungsmesse KV 317 und die unvollendete grosse c-Moll-Messe KV 427.

Mozart schrieb seine Missa solemnis KV 139, die sog. Waisenhausmesse, als Zwölfjähriger zur Einweihung der Waisenhauskirche in Wien. Es handelt sich dabei um eine Kantatenmesse, in welcher die einzelnen Ordinariumsteile analog Oper und Oratorium in selbständige Abschnitte unterteilt sind. Das Et incarnatus est ist hier als Hirtenmusik in Form eines pastoralen Duettes für Sopran und Alt. In der durchkomponierten Krönungsmesse6 KV 317 jedoch, zehn Jahre später in Salzburg entstanden, wird dieser Weihnachtsteil durch ein fünftaktiges Solistenquartett gestaltet, begleitet durch sordinierte7 Violinen im piano, welche auch im folgenden Crucifixus des Chores weiterspielen, nun bei völlig veränderter Harmonik und in dramatischem Forte. Weihnachten und Passion also dicht verbunden – ein wahrlich theologisches Konzept. Mozarts letzte (und ohne Auftrag komponierte) Missa c-moll KV 427 zählt, obwohl Fragment, zu den grossen Messevertonungen der Musikgeschichte. Es handelt sich hier wieder um eine Kantatenmesse, vergleichbar Bachs h-moll-Messe BWV 232. Das einzigartige Et incarnatus est für Sopransolo, drei Holzbläser und Streicher (diese nur skizzenhaft notiert) hat erneut den eines höchst kunstvollen Minnegesangs, Musik, wie wir sie aus intimen Opernszenen dieses Komponisten kennen.

Analoges gilt für die 14 Messen von Joseph Haydn. Der Weihnachtsteil des Credo ist selbst in den kürzesten Messen8 tempo- und charaktermässig hervorgehoben. Im Gegensatz zu Mozart finden sich dabei auffällig viele Moll-Varianten9 und oft folgt das Crucifixus im selben Gestus, theologisch einleuchtend und weit entfernt von einer pastoralen Krippenszene.

Von Beethoven zu Bruckner

Mit Beethoven verdichtet sich dieser theologische Aspekt signifikant. In seiner Missa solemnis beginnt das Tenorsolo des Et incarnatus est mit gregorianischem Anklang, der sich im vollen Solistenklang entfaltet und schliesslich in ein staunendes Pianissimo des Chores mündet. Und über allem schweben Flötentriller, quasi als Taube der Verkündigung. Ähnlich in Anton Bruckners f-moll-Messe, wo mit der Tempobezeichnung moderato misterioso wiederum ein exponiertes Tenor-Solo von zwei Engeln (hier Violine- und Viola-Solo) begleitet wird und der Chor ehrfürchtig mit einstimmt. Anders in Schuberts Messe in G-Dur D 167. Hier unterbricht der Komponist das unerbittlich durchlaufende Orchester-Kontinuum des dogmatischen Teils und widmet sich der Weihnachtsthematik durch feierlichen Chorklang, ein Gestaltungsmittel, welches er in seiner grossen Messe in As-Dur durch Achtstimmigkeit und harmonische Weitung steigert. Im Vordergrund von Weihnachten steht seit Beethoven also weniger eine Krippenszene, sondern das Mysterium der Menschwerdung.

Krzysztof Penderecki

Grundverschieden ist das Bild beim zeitgenössischen Komponisten Krzystof Penderecki (1933–2020). Als er vom Dirigenten Helmuth Rilling (1933*) den Auftrag zur Komposition einer Messe erhielt, konzentrierte er sich auf die Vertonung des Credo (ohne die übrigen Messeteile), da dieses nach seiner Auffassung bereits alles enthält, was eine Messe zum Ausdruck bringen will und kann. Die Aussage zu Weihnachten überlässt er einem ausgedehnten Altsolo, kontrapunktiert von Solo-Bläsern, welche das Pange lingua intonieren – ein theologischer Bezug und eine Assoziation, die sich auch an andern Stellen des Werkes findet, etwa die Improperien und der Psalm 130 beim Crucifixus. Penderecki ist einer der wenigen Komponisten der nachvatikanischen Zeit, die nochmals in musikalisch und theologisch relevanter Weise die Tradition der Messe-Komposition aufgenommen haben. Er hat dabei neue Perspektiven  eröffnet, die heute in einem gesellschaftlich und kirchlich veränderten Umfeld kaum mehr zur Kenntnis genommen werden. Geblieben ist Bachs Weihnachtsoratorium, geblieben das unverwüstliche «Stille Nacht», geblieben sind volkstümliche Gesänge10 und neu dazu kamen der angelsächsische Weihnachtsmann und seine Jingle Bells.

Zum Schluss: Für mich persönlich ist das Weihnachtsgeheimnis am idealsten dargestellt, musikalisch und theologisch, in Bachs h-moll-Messe BWV 232. Absteigende Moll-Dreiklänge über einem Orgelpunkt, umrankt von Seufzern der Violinen, versinnbildlichen die Menschwerdung. Sie münden in einem erlösenden H-Dur-Akkord, dem ein unerbittliches «Crucifixus» folgt, welches schliesslich im ekstatischen «Et resurrexit» seine Antwort findet.

Alois Koch

 

1 Christmette, Hirtenmesse und Hochamt am Weihnachtstag.

2 Die kompositorische Konsequenz der Fugenkomposition reflektiert die Unbedingtheit der Dogmen.

3 Nebst Bach wohl jener Komponist, dem theologische Deutung persönliches Anliegen war.

4 Et unam sanctam catholicam.

5 Figurenlehre: definierte musikalische Wendungen als Ausdrucksmethoden, z. B. fallende Skalen für descendit de coelis oder aufsteigende Linien für ascendit in coelum.

6 Die Bezeichnung Krönungsmesse erhielt die Missa KV 317 erst im 19. Jahrhundert, weil sie u. a. anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten von Kaiser Franz II. aufgeführt wurde.

7 Die Violinen spielen mit aufgesetztem Dämpfer.

8 Missa Rorate coeli und Missa Johannis de Deo (sog. Kleine Orgelsolomesse).

9 Nur in der Nelsonmesse von 1798 und in der Harmoniemesse von 1802 steht der Teil Et incarnatus est in Dur.

10 Ich denke da an die Tradition der sog. Gersauer Weihnachtlieder.

 


Alois Koch

Dr. Alois Koch (Jg. 1945) ist emeritierter Rektor der Musikhochschule Luzern und ehemaliger Kirchenmusiker an der dortigen Jesuitenkirche und an der St.-Hedwigs-Kathedrale Berlin. Er wirkt heute als Dozent an der Seniorenuniversität Luzern, als Organist in Gersau und als musikalischer Experte im In- und Ausland. Ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist die Thematik «Musik und Theologie».

 

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