Die Begegnung Jesu mit der Syrophönizierin (Mt 15,21–28) – im Lesejahr A das Evangelium vom 20. Sonntag im Jahreskreis – leitet zu christologischem Nachdenken an.
Hohe dogmatische Christologie …
Jesus ist «wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch», «der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich ausser der Sünde», so formuliert das Konzil von Chalzedon (451; vgl. DH 301). Um diese Glaubensaussage hat die Alte Kirche gerungen, und zwar im Blick auf das Menschsein Jesu ebenso wie im Blick auf sein Gottsein und die Verbindung von beidem. Hinsichtlich des Menschseins wurden nach und nach mehrere Aspekte zunächst problematisiert und daraufhin entschieden festgehalten: (1) Die Menschengestalt ist nicht nur eine zum Schein angenommene Verkleidung. (2) Menschlich an Jesus ist nicht nur das «Fleisch», die körperliche Seite, vielmehr ist er ein «ganzer Mensch». (3) Eigens geklärt wird, dass zu diesem ganzen Menschen auch eine menschliche Seele und (4) ein menschlicher Wille gehört (also das, was im Menschen das Prinzip der Versuchbarkeit und Einfallstor für Sünde ist).
… in heutigen Kontexten weitergedacht
Der Kontext dieser Suchbewegung, die bis zum Konzil von Konstantinopel 680/681 dauerte, ist die antike, hellenistisch geprägte Anthropologie. In ihrem Bannkreis brachte die Glaubenssaussage über Jesus Christus mit dem Begriff der menschlichen Natur eher eine statische Vorstellung des Menschseins zum Ausdruck.
Heutige Anthropologien sind stärker von geschichtlichen Denkhorizonten geprägt. Sie nehmen das Menschsein in der Spannung von Sein und Werden und in relationaler Bezogenheit auf die Mitwelt wahr. Dem Menschen ist sein Selbstsein so aufgegeben, dass er es vermittelt durch den Bezug auf das Andere, das ihm von aussen begegnet, in freiheitlicher Entscheidung vollbringen muss.
Deswegen gehört zum Menschsein eine Lebensgeschichte, in der uns Menschen die eigene Herkunft vorgegeben und die Zukunft entzogen ist. Damit verbunden ist die Begrenztheit des eigenen Wissens und Erkennens sowie die Notwendigkeit, das eigene Selbst und den eigenen Auftrag vermittelt durch Lernprozesse, insbesondere durch Erfahrungen innerhalb der eigenen Lebensgeschichte, zu vollziehen. Diese anthropologischen Perspektiven forderten in der Neuzeit und Moderne die christologische Frage nach dem wahren Menschsein Jesu neu heraus. So wurde Karl Rahner von der Frage umgetrieben, inwiefern die menschliche Existenz auch für Jesus als Wagnis, im «Sichanvertrauen an das Unübersehbare»1 und darum auch in Formen des Nichtwissens zu leben war: Sonst hätte er nicht das prekäre Menschsein geteilt, wie es für uns dramatisch und als Pilgerschaft ins Verhüllte hinein aufgegeben ist.
Solidarität Gottes mit prekärem Menschsein
Die Alte Kirche hat gewusst, worum es bei der Frage nach dem wahren Menschsein geht. Das entscheidende Kriterium war: «Was nicht angenommen ist, ist nicht erlöst.» Darum wuchs die Überzeugung, dass in Jesus Christus all das, warum das Menschsein erlösungsbedürftig ist, von Gott angenommen ist. Für die Alte Kirche waren die entscheidenden Punkte die Leiblichkeit des leidensfähigen und sterblichen Menschen sowie die menschliche Seele und der menschliche Wille des versuchbaren und wankelmütigen Menschen. Die Solidarität im wahren Menschsein ist damit aber nicht abschliessend definiert. Aus demselben Grund werden wir heute in Jesus Christus die erlösende Nähe Gottes darin erkennen, dass Gott sich in ihm in eine menschliche Lebensgeschichte hineingibt, die auch das soziale Angewiesensein, Nicht-Wissen, Wachsen und Lernenmüssen teilt. Andernfalls wäre ihm die Mühsal des Lebens, das Sichloslassen im Vertrauen, das Wagnis der Entscheidung ebenso wie ein echtes Eingebundensein in die menschliche Gemeinschaft (im Empfangen und Geben) fremd geblieben. Bei näherem Hinsehen ist diese Art von Fragestellung dem biblischen Jesusbild alles andere als fremd. Gleich dreimal betont das Lukasevangelium in der Kindheitsgeschichte, dass Jesus nicht nur physisch, sondern auch an Geist und Weisheit wuchs (vgl. Lk 1,80; 2,40.52).
Lernen ist keine Sünde
Zudem erzählen die Evangelien ohne Vorbehalte von Jesu Lerngeschichten. Einen schönen Zugang dazu eröffnete im Jahr 1988 das schöne Büchlein von Wilhelm Bruners unter dem Titel: «Wie Jesus glauben lernte». Es ist 2012 neu aufgelegt worden.2 Wie Bruners im Vorwort des Buches erinnert, ist nach christlicher Überzeugung Jesus «in allem uns gleich, ausser der Sünde» und fügt an: «Lernen ist keine Sünde.3 Auch darin wurde ER uns gleich, das ER – mit uns – gelernt hat.»4 Vor diesem Hintergrund beschreibt Bruners Jesus in lernender Verbundenheit mit seinem familiären, religiösen und kulturellen Kontext.
Eine dieser Lerngeschichten ist die Begegnung Jesu mit der Syrophönizierin. Die heidnische Frau, die Jesus für ihre kranke Tochter bittet, muss eine Abfuhr einstecken, die bei Matthäus (Mt 15,21–28) besonders harsch gezeichnet wird. Anders als im Markusevangelium (Mk 7,24–30) erhält die Frau von Jesus zunächst überhaupt keine Antwort, sondern erfährt nur aus seinen Worten zu den Jüngern, dass er sich als für sie nicht zuständig ansieht. Erst auf nochmaliges Bitte hin weist er sie direkt und unfreundlich ab. «Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.» Doch die Hartnäckigkeit der Frau bringt eine Wende. Jesus anerkennt ihren Glauben.
«Durch die namenlose Frau lernt Jesus»
«Wir, die späten Heiden (und ‹Hunde›) möchten gern von ihm [Jesus] immer schon mitgemeint sein. Es ist schwer zu ertragen, wenn er, zumindest eine Zeitlang, nur seine Aufgabe für Israel sah: Sammlung der verlorenen Schafe Israels! Aber nicht, jedenfalls zunächst nicht, Sammlung der Völker. Die Frau hätte allen Grund, bei der beleidigenden und abweisenden Haltung und Rede Jesu wegzugehen, den jüdischen Rabbi zu verfluchen, der sie und die Not ihrer Tochter so wenig beachtet. Wir müssen ihr dankbar sein, dass sie hartnäckig bleibt, voll Ausdauer und sich durch die Beleidigung nicht beirren lässt. (…) Sie greift die Beleidigung auf und verändert sie zu ihren Gunsten, widerlegt Jesus mit seinen eigenen Worten – und gewinnt! (…)
Der Glaube der Frau (Glaube hat in der Bibel oft mit Beharrlichkeit zu tun) hat Jesus überzeugt. Er ‹bekehrt› sich zu ihr, wendet sich ihr zu, hört und erhört ihre Bitte. (…) Durch die namenlose Frau lernt Jesus: Er ist nicht nur für die verlorenen Schafe des Hauses Israel da! Die Sammlung aller Völker beginnt. Insofern hat die Frau für ihn eine Botschaft, die ihm in der Begegnung mit ihr gegeben wird und die er vorher so nicht sah.»5