Die Diskussion um die Armutsbekämpfung geht weiter. So hat sich auch die Kommission Justitia et Pax mit den Beiträgen von Prof. Dr. Martin Rhonheimer befasst, die dieser in der NZZ vom 5. April und 6. Mai dieses Jahres 2016 erscheinen liess. Die NZZ vom 10. Juni hielt die Spalten offen für den hier als Zweitpublikation erscheinenden Gastkommentar von Thomas Wallimann-Sasaki und Robert Unteregger. Die NZZ beendete damit vorläufig die Debatte um die katholische Sozialethik und ihr Verhältnis zu freiem Markt und Unternehmertum.
Martin Rhonheimer schlägt zur Bekämpfung einer nicht genauer bestimmten Armut «Business» als Lösung vor: Kapitalismus und Marktwirtschaft, freies, profitorientiertes Unternehmertum. Produktivitätssteigerung – ohne Umverteilung – ist der Weg zum Wohlstand für alle, auch für die Ärmsten. Den Vertretern der katholischen Soziallehre wirft er vor, die Arbeit des Unternehmers zu übersehen.
Eine solche allgemeine Position halten wir für fragwürdig. In wissenschaftstheoretischer Hinsicht argumentiert Rhonheimer monokausal, mit einer goldenen Formel: Die Lösung für fast alles ist das freie Unternehmertum. Wir leben jedoch in einer komplizierten Welt. Hier wirken viele Faktoren – auch beim Wirtschaften: Bildung, gesellschaftlich-politische Stabilität, Infrastrukturen, eine nicht durch Korruption kaputte Verwaltung und Politik, Unternehmer, Angestellte und Arbeitende mit Augenmass, eine lebendige Kultur und Moral. Einfache Formeln greifen in dieser vielschichtigen Wirklichkeit so nicht. Auch die Wirtschaftswissenschaften müssen auf der Grundlage konkreter geschichtlicher und gesellschaftlicher Zustände arbeiten.
Wir suchen Antworten
Für Rhonheimer scheint es kaum echte Probleme zu geben. Doch die Welt steht vor grössten Herausforderungen, auch wirtschaftlich: Wir suchen Antworten auf den Klimawandel. Seit 1950 stieg die Anzahl Autos in der Schweiz von 150 000 auf über vier Millionen. Der Energieverbrauch hat sich verfünffacht. Warum haben wir eine zuverlässige Versorgung mit Wasser, aber keine zuverlässige Geldordnung? Kurz: Wie sieht eine tragfähige Wirtschaftsordnung in einer endlichen Welt aus? Was soll wachsen, was schrumpfen? Wie gehen wir lokal, national oder global vor, und was bedeutet die Forderung von Christine Lagarde, Direktorin des Währungsfonds, die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich zu bekämpfen? Rhonheimer muss aus dem Dornröschenschlaf seines unaufgeklärten Ökonomismus erwachen und sich der Komplexität unserer Welt stellen.
Zukunftsfähig werden
Auch sein Umgang mit dem Kompendium der katholischen Soziallehre ist fragwürdig. Er liegt falsch, wenn er die Forderung nach einem «familiengerechten Lohn» daraus verbannt. Im Kompendium steht: «Die Arbeit ist (…) die Voraussetzung für die Gründung einer Familie (…). (…) Um dieses Verhältnis zwischen Familie und Arbeit zu bewahren, muss der Familienlohn, das heisst der Lohn, der ausreicht, um der Familie ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, berücksichtigt und geschützt werden.» Wenn Rhonheimer eine andere Position vertritt, dann sollte er diese als eigene Position kenntlich machen.
Menschen haben Vorrang
Was kann nun die katholische Soziallehre angesichts dieser Herausforderungen beitragen? Papst Franziskus signalisiert die Richtung: In der Enzyklika «Laudato si» ergänzt er die traditionellen Grundsätze der katholischen Soziallehre – Personalität (Mensch im Zentrum), Solidarität (vorrangige Option für die Armen und Benachteiligten), Subsidiarität (vor Ort tun, was möglich ist; in grösseren gesellschaftlichen Zusammenhängen nur, was dort besser getan werden kann), Gemeinwohl (das Wohlergehen aller im Blick) – mit den Grundsätzen der Nachhaltigkeit (die Auswirkungen unseres Handelns auf künftige Generationen mitdenken und verantworten) und einer ganzheitlichen Ökologie (alles hängt mit allem zusammen). Er fordert dazu auf, diese Grundsätze vor Ort in den jeweiligen Kontext einzubringen. Die konkreten Menschen und die Folgen für sie haben den Vorrang vor abstrakten Ideen. Es ist ermutigend und erfrischend, dass die Schreiben des Papstes wie die Agenda 2030 der UNO eine Welt zeichnen, die wieder zukunftsfähig werden soll und kann. Dazu braucht es den Beitrag aller. Business allein reicht nicht. Wirtschaftswissenschaftler, Gesellschaftswissenschaftlerinnen und Sozialethiker könnten dazu einen wichtigen Beitrag leisten.