Zukunftsvisionen gehören zum festen Bestandteil unseres Glaubens. So ist das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, nichts anderes als eine Zukunftsvision, aufgespannt in überwältigenden Bildern, die jede Vorstellungskraft sprengen. Die Bibel nimmt dabei nicht kurz- und mittelfristige Perspektiven ein. Hier geht es um das Grosse und Ganze. Die eschatologischen Texte mit ihrer herausfordernden Bildsprache sprengen räumliche und zeitliche Grenzen, verlieren sich aber zugleich nicht im Vagen. Sie knüpfen immer an der Gegenwart der Hörenden an und gehen von der erlebten Realität aus. Sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Testament wurzeln die Visionen in Krisenzeiten.
Die Kirche von heute ist nicht nur Teil einer von Krisen verunsicherten oder erschütterten Gesellschaft, sondern steckt selber in einer Krise. Die von der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) sowie der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ) und der Katholischen Ordensgemeinschaften der Schweiz (KOVOS) in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie machte Abgründe sichtbar, die es dringend anzugehen gilt. Zusätzlich zeigte die Bischofssynode in Rom einige Baustellen, die auch uns betreffen.
Auf verschiedenen Ebenen wurden bereits Weichen gestellt. Die bei der Veröffentlichung der Pilotstudie vorgestellten Massnahmen wurden umgesetzt oder sind in der konkreten Planungsphase. Die Errichtung des nationalen Straf- und Disziplinargerichtes erhielt im Grundsatz das grüne Licht vom Papst. An verschiedenen Orten gibt es Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen und einen Austausch mit den Opferverbänden. In den Bistümern, der DOK und der SBK gibt es intensive Diskussionen über die Missio im Zusammenhang mit der persönlichen Lebensführung. Im Bistum Basel will man mit dem Projekt einer diözesanen Ombudsstelle starten. Neben den synodalen Prozessen, die in den Bistümern laufen, steht die Errichtung einer schweizweit tätigen Synodalitätskommission bevor.
Neben den eher strukturellen Massnahmen bleibt entscheidend, dass die Kirche zunächst Gott und die Menschen im Blick hat. Bestärkende und sinnstiftende Erfahrungen von Christinnen und Christen vor Ort halten den Glauben wach und lebendig. Sie sind Zeichen des anbrechenden Reiches Gottes, einer biblischen Zukunftsvision, die schon begonnen hat, sich zu verwirklichen. So erlebe ich den Geschmack des Reiches Gottes momentan in einem spannenden Prozess im Bistum Basel, der unter dem Motto «Kirche, die den Menschen dient» läuft. Wir lesen die Bibel, meditieren den Text, tauschen aus und ergründen zusammen, was es heisst, in der Nachfolge Jesu Christi zu stehen, wo wir bereits als dienende Kirche unterwegs sind und wo wir uns weiter entfalten können. Das bestärkt mich in meinem Glauben und in der Hoffnung, die allen Zukunftsvisionen vom Reich Gottes zugrunde liegen.
Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, den in den biblischen Schriften entfalteten Gedanken vom bereits angebrochenen Reich Gottes auch für heutige Zukunftsvisionen wieder wachzurufen. Als Christinnen und Christen planen wir nicht das Heil für morgen. Wir erleben es dank Gottes Wirken durch unsere Mitmenschen schon hier und jetzt. Wir können es hier und jetzt weiterschenken.
+Felix Gmür, Bischof von Basel*