«Liebt eure Feinde!» (Mt 5,44/ Lk 6,27)

Bild: Manuel Andreas Dürr (www.manuelandreasduerr.ch)

 

Am 24. Februar 2022 begann die russische Armee ihre Angriffe gegen die Ukraine. Bilder aus Butscha – der Ort steht wie kein anderer für begangene Gräueltaten an der Zivilbevölkerung – aus Mariupol und Bachmut haben uns vor Augen geführt, was wir für undenkbar hielten: Imperiale Machtansprüche werden in Europa wieder mit Bomben und Granaten durchgesetzt.

Angesichts von Kriegsverbrechen und unzähliger Opfer unter Zivilpersonen wirkt die Aufforderung Jesu «Liebt eure Feinde!» zynisch, ja geradezu unerträglich. Wären wir bereit, diese Aufforderung den Menschen in der Ukraine ins Gesicht zu sagen? Wohl kaum!

Wie kann der provozierende Appell Jesu «Liebt eure Feinde!» auch nach über 500 Tagen Krieg und Zerstörung verstanden werden? Gilt dieser Appell auch im Krieg? Der Appell Jesu «Liebet eure Feinde» hat noch einen zweiten Teil: «… und betet für die, die euch verfolgen». Das ändert die Blickrichtung. Offensichtlich meint Jesus mit dem Gebot der Feindesliebe nicht eine naive Unterwerfung unter denjenigen, der die Macht des Stärkeren ausspielt. Im Gebet für den Feind öffnet sich der eigene Blickwinkel. So ist es möglich, die Gewaltsphäre zu überwinden. Es öffnet Räume, um die Begrenztheit und Verletzbarkeit auch des Feindes wahrzunehmen. Das Gebet überwindet so die Logik der Gewalt und bietet Hoffnung, weil es um die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten weiss.

Dass Krieg und Gewalt nicht das letzte Wort haben dürfen, wird auch deutlich, wenn man die Bergpredigt von Anfang an liest. In Mt 5,9 heisst es: «Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.» In den Seligpreisungen des Lukas heisst es: «Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen.» Hass ist wie eine Selbstblockade, er versperrt den Blick auf den anderen. Damit der Hass nicht die Oberhand gewinnt, braucht es einen Perspektivenwechsel, der den anderen auch als Person wahrnimmt, die verstrickt ist in Gewaltzusammenhänge, die durchbrochen werden müssen.

Was heisst das nun für eine christliche Friedensethik? Sollen wir, sollen die Ukrainerinnen und Ukrainer der russischen Politelite und den russischen Soldaten Gutes tun und sie lieben? In der Bergpredigt des Matthäus und den Seligpreisungen des Lukas wird das Gebot der Nächstenliebe erweitert und überboten, weil auch die Feinde in den Blick genommen werden. Das schliesst ein entschiedenes Urteil gegenüber Gewalt, Hass und Kriegsverbrechen nicht aus. Krieg ist niemals ein legitimes Mittel, um politische Interessen durchzusetzen. Das Recht auf Selbstverteidigung, wie es auch im Völkerrecht verankert ist, muss aber gewahrt bleiben, weil sonst das Gebot der Feindesliebe wirklich zynisch und unerträglich wird. Gleichzeitig müssen alle diplomatischen Wege und nicht militärischen Mittel ausgeschöpft werden, um den Krieg zu beenden.

Im Gebet ist die Hoffnung zu stärken, dass der Krieg rasch ein Ende findet. Dann wieder eine Sprache des Friedens und eine Kultur der Versöhnung zu finden, um Hass und Kriegstraumata zu überwinden, wird zu einer grossen Herausforderung für alle Seiten. Eine christliche Friedensethik muss hierfür geeignete Beiträge liefern.


Wolfgang Bürgstein*

 

* Dr. Wolfgang Bürgstein (Jg. 1961) ist Ökonom und Theologe. Seit 2003 arbeitet er für die Nationalkommission Justitia et Pax.