Mitgegangen, mitgefangen

Unter uns Schulbuben war der Spruch beliebt: Mitgegangen, mitgefangen! Manchmal klang Schadenfreude an, manchmal Beschuldigung. Angenehm war es nie. Egal, auf welcher Seite man stand.

Ich bin aufmerksamer auf Aussagen geworden, die für mich trennend tönen. Ich werde hellhörig, wenn im kritischen Gespräch über einen Seelsorger gesagt wird: «Ich bin nicht wie dieser» oder «Ich kann das überhaupt nicht verstehen» oder «Das geht gar nicht». Ich empfinde es als absondernd, wenn jemand sagt: «Ich mache es halt so» oder «Das geht bei uns nicht».

Abgrenzungen gehören zur Identitätsbildung und erfüllen dabei eine orientierende Funktion. Darum geht es mir hier nicht. Mich beschäftigen die Zugehörigkeit und die damit verbundene Zeugenschaft. Gruppen, Organisationen, auch die Kirchen haben ihre Wiedererkennungsmerkmale: Äusserlich etwa Dresscodes, Alltagsrituale, Logo; innerlich sind es Werthaltungen, Intentionen, Absichten. Wie gross muss die Schnittmenge sein, damit die Organisation «zu mir steht»? Wie gross muss die Schnittmenge sein, damit ich noch zur Organisation stehen kann? Wie gross muss die Schnittmenge sein, damit Dritte erkennen, dass ich mich für diese Organisation engagiere? Wie weit trage ich mit meinem Widerwort zu Veränderungen bei? Wann beginne ich, am Ast zu sägen, auf dem ich sitze?

Die gesellschaftlichen «Selbstverständlichkeiten» ändern sich schneller und nachhaltiger als das Aggiornamento der röm.-kath. Kirchentraditionen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Dynamik nichts Neues ist. Und doch kommt das Empfinden auf, als Katholikinnen und Katholiken abseits zu stehen. Das zeigt sich häufig im Begründungsnotstand für kirchliche Positionen. Ihre schwindende Plausibilität wird greifbar. An den Polen der «Reformstau-Auseinandersetzungen» gibt es keine Schnittmenge mehr: Was für die einen die Kirche der Erneuerung sein wird, ist für die anderen nicht mehr die Kirche des Ursprungs − und umgekehrt. Die Zugehörigkeit zur röm.-kath. Kirche steht vor neuen spirituellen und menschlichen Herausforderungen. Als Generalvikar stehe ich in diesen Auseinandersetzungen. Manchmal frage ich mich, wie weit wir uns noch auseinander-setzen können, bis wir uns nicht mehr hören. Wie viel Durcheinander erträgt eine Organisation, bis sie ihre Anziehungskraft und ihre Glaubwürdigkeit in den Augen Dritter gänzlich verliert?

Ich verstehe meine Aufgabe auch als Zusammenhalten, Zusammenführen, Zusammenbringen. Ein erstes Leitwort dafür ist mir ein Grundsatz des römischen Rechts. «Audiatur et altera pars» (Man höre auch die andere Seite). Ich praktiziere ihn so, dass ich mich in andere Positionen hineinversetze, um emotional und rational besser zu empfinden und zu verstehen. Freiräume können sich so öffnen, manchmal weiten sich sogar Schnittmengen wieder aus.

Als zweites Leitwort betrachte ich in spannungsreichen Situationen die Reaktion Jesu in Johannes 6,60 ff. Da heisst es: «Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?» Viele seiner Jünger haben sich zurückgezogen. «Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen?» (Joh 6,67). Es zentriert mich immer wieder neu, wenn ich die existenzielle Wucht dieser Frage an mich herankommen lasse. Und später – auch dankbar – die Antwort Petri nachstammle: «Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens» (Joh 6,68).

Ein drittes Leitwort steht in Psalm 8, Vers 5: «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?» Wenn der Psalmist das für Gott bekennt, wie viel mehr muss es dann auch für mich gelten und meinen Umgang mit meinesgleichen prägen? Schwierige Menschen versetze ich in Gedanken gerne in den Himmel und nehme dann an, dass ich auch dort sein darf. Wie wird das dort dann mit uns sein? Natürlich himmlisch. Das Gedankenspiel hilft mir, Begegnungsräume auf Erden zu schaffen.

Mitgegangen, mitgefangen. Wie sehen Sie es mit Ihrer Zugehörigkeit?

Markus Thürig


Markus Thürig

Dr. Markus U. Thürig (Jg. 1958) ist seit 2011 Generalvikar des Bistums Basel und Präsident der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und Präsident des Bildungsrates der DOK.