Neues schaffen

Richard Lehner, Generalvikar des Bistums Sitten, macht sich Gedanken darüber, ob nicht manchmal die Frage der Macht im Zentrum der Diskussionen um die Erneuerung der Kirche steht.

Die Kirche will sich erneuern. In allen Bistümern und in sprachlich unterschiedlichen Bistumsteilen sind Menschen an der Arbeit und überlegen sich, wie der Weg in die Zukunft aussehen und wie er gemeinsam gestaltet werden könnte. Dabei zeigt sich, dass die Vorstellungen von Erneuerung sehr unterschiedlich sind. Da gibt es solche, die alles über den Haufen werfen und Neues aus der Kiste zaubern wollen. Andere besinnen sich auf bewährte Traditionen und versuchen, eine scheinbar heile Welt möglichst unverändert in die Zukunft zu retten. Das Resultat sind lange Diskussionen, die am Schluss offen und ohne Ergebnis bleiben und so das gemeinsame Anliegen der Erneuerung im Keime ersticken. Erneuerung ist nicht möglich, wenn einige schliessen, was andere geöffnet haben und andere öffnen, was längst verschlossen schien.

Mir fallen Verse aus dem 22. Kapitel des Propheten Jesaja ein. Es geht da um Schebna, einen Schreiber und Beamten unter König Hiskija. Er tut seine Arbeit und hat durchaus Erfolg. Doch dann verliert er seine eigentliche Aufgabe aus den Augen. Er stellt sich selbst ins Zentrum und denkt nur noch an seine eigene Zukunft. Die Folgen für ihn sind verheerend. Er wird weggeworfen wie ein Knäuel Wolle und durch einen würdigeren Diener Gottes ersetzt. Ihm wird der Schlüssel des Königshauses anvertraut. «Was er öffnet, wird kein anderer verschliessen, und was er zuschliesst, wird niemand öffnen.» (Jes 22,22)

Manchmal frage ich mich schon, ob bei allen Versuchen, die Kirche zu erneuern, nicht allzu oft die Frage der Macht im Zentrum steht. Die Zeiten, in denen Amtsträger den Gläubigen sagen konnten, was zu tun und zu lassen ist, sind längst vorbei. Vielmehr soll jeder Mensch nach seinem Gewissen handeln, wie es das II. Vatikanische Konzil betont (GS 16). Dazu braucht der Mensch jedoch eine glaubwürdige Verkündigung der christlichen Botschaft, die auf die Fragen der Zeit antwortet. Vielerorts gibt es Initiativen zur Erneuerung der Kirche und ihrer Verkündigungsformen. Die Frage lautet: Wie kann es Verkündigenden gelingen, die biblische Botschaft so in das Heute zu tragen, dass Menschen aus ihr leben können?

Wer Neues schaffen will, muss bei sich selbst beginnen. Er muss zunächst sein eigenes Verhalten prüfen und darüber nachdenken, ob er immer noch auf dem rechten Weg ist. Richtschnur muss ihm dabei die Person Jesus Christus sein und die frohe Botschaft, die dieser verkündet und gelebt hat. Dann erst sind Kurskorrekturen angesagt. Diese entspringen nicht mehr bloss menschlichem Denken und sind in erster Linie nicht Resultat von Sitzungen und Tagungen. Sie sind getragen von einer geerdeten Spiritualität und von der Überzeugung, dass Gott selbst seine Kirche lenkt.

Nun ist eine solche Haltung nicht nur für das gläubige Volk angesagt. Jeder getaufte und gefirmte Christ, Priester und Laien, Amtsträger auf allen Ebenen und in allen kirchlichen Strukturen sind gefordert. Macht und Machterhalt haben in einer kirchlichen Gemeinschaft keinen Platz. Die Frage, ob die Erneuerung der Kirche gelingt, liegt nicht nur an neuen und kreativen Formen der Verkündigung, sondern ebenso daran, ob es gelingt, es allen Getauften zu ermöglichen, ihre Charismen einbringen zu können.

Richard Lehner


Richard Lehner

Richard Lehner (Jg. 1964) hatte seine Priesterweihe am 10. Juni 1990, war Vikar in Glis, dann Direktor des Bildungshauses St. Jodern in Visp und anschliessend Pfarrer in Ried-Brig und Termen. Seit 2010 ist er Generalvikar mit besonderer Verantwortung für den deutschsprachigen Teil des Bistums Sitten und Domherr der Kathedrale von Sitten.