Theologische und religiös-kulturelle Spannungen gibt es in der Christenheit seit dem Konflikt zwischen den Judenchristen und Paulus. Das schwierigste Problem, vor das sich die Kirchen in ihrer Geschichte gestellt sahen und sehen, besteht in der Entscheidung, «wann um der Wahrheit des Glaubens willen Gemeinschaft nicht weitergeführt werden kann und wann umgekehrt die Verweigerung der Gemeinschaft die Wahrheit des Glaubens zerstört».1 Durch diese ganze Geschichte hindurch, nicht erst im Rahmen der ökumenischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, gab es Amtsträger und Theologen, die sich besonders dafür eingesetzt haben, Brüche der Gemeinschaft zu überwinden. Einer dieser «Prä-Ökumeniker» ist der 1152/53 auf der Burg Lambron im armenischen Kilikien geborene Nerses, der 1180/81 Erzbischof von Tarsos wurde, der Stadt, welche für Lukas die Geburtsstadt von Paulus ist.2
Eine orientalische Kirche
Im 11. Jahrhundert hatte das Byzantinische Kaiserreich in seinem Streben nach Vorherrschaft in Kleinasien zwei armenische Königreiche annektiert; gegen Endes des Jahrhunderts wurden die Byzantiner in Grossarmenien dann aber von den Seldschuken militärisch geschlagen: Damit wurde die armenische Auswanderung nach Kappadokien und Kilikien erheblich verstärkt. Bereits gegen Mitte des 12. Jahrhunderts konnten die Armenier in Kilikien ein Fürstentum unter byzantinischer Oberhoheit einrichten und konnte ihre Kirche den Sitz ihres Oberhauptes, des Katholikos, in die Festung Hromkla am Euphrat verlegen. Die Herrschaft des byzantinischen Kaisers und seiner Reichskirche nötigte die anti-chalkedonensische armenische Kirche, ihr Verhältnis zur chalkedonensischen Reichskirche zu klären. Am neuen Sitz bemühten sich vor allem die Katholikoi Nerses IV. Schornhali und sein Nachfolger Gregor IV. Tgha um eine Verständigung mit Byzanz. Nerses Schornhali, ein herausragender Theologe, erklärte und verteidigte das christologische Bekenntnis seiner Kirche und ihre Bräuche und warb bei Chalkedonensern so um Verständnis. Sein Neffe und Nachfolger Gregor IV. versammelte 1179 in Hromkla eine förmliche Unionssynode. Für diese Synode verfasste der Grossneffe von Nerses IV., Nerses von Lambron, eine Synodalrede, mit der er die versammelten Bischöfe eindringlich an ihre Verpflichtung auf die Gemeinschaft der Kirchen, auf die Einheit der christlichen Kirchen, erinnerte.
In Kilikien waren die Armenier griechischhellenistischen, syrisch-semitischen, islamischen und namentlich vom fränkischen Kreuzfahrerstaat Antiochien her auch abendländischen Einflüssen ausgesetzt. Später führte der abendländische Einfluss sogar dazu, dass sich Gregor IV. durch die Annahme des Palliums 1184 vom Papst in seinem Amt bestätigen liess, Gregor IV. auf der Synode von Tarsos 1197 eine förmliche Union mit Rom einging, sodass Fürst Lewon II. sich 1199 vom Päpstlichen Delegaten, dem Mainzer Erzbischof Konrad von Wittelsbach, zum König krönen lassen konnte. Diese «kilikische Union» wurde von der Kirche in Ost-Armenien, insbesondere den Bischöfen und Klöstern, nicht mitgetragen. Diese hatten sich bereits gegen die Offenheit von Nerses von Lambron mit dem Vorwurf gewehrt, er sei ein Verräter des wahren Glaubens und der Traditionen der armenischen Kirche. Gegen diese Vorwürfe verteidigte sich Nerses mit einem Brief an Fürst Lewon, in dem er sich mit seinen Gegnern recht polemisch auseinandersetzt. Da ein Vorwurf lautete, mit allen Christen in communio zu sein, kann diese Streitschrift die Überlegungen der Synodalrede gut ergänzen.
Gegenseitiges Einvernehmen
Die Synodalrede ist nach fast 200 Jahren wieder einmal und der Brief an Fürst Lewon erstmals ins Deutsche übersetzt und gut eingeführt und kommentiert herausgegeben worden.3 Der Übersetzer und Herausgeber Iso Baumer war mehrere Jahre Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg und an der Theologischen Schule der Abtei Einsiedeln. Mit Armenien zu beschäftigen begonnen hatte er sich nach dem Konzert eines armenischen Chores in Bern anlässlich der 60 Jahre seit dem Genozid an den Armeniern. Bald werden seit diesem Genozid 100 Jahre vergangen sein; die kommenden Gedenkanlässe4 könnten für andere ein Ansporn sein, sich mit Armenien zu beschäftigen. Die vorliegende Publikation erscheint so zum rechten Zeitpunkt; zu einer Begegnung mit der armenischen Theologie kann sie unabhängig davon zuverlässig hinführen.
Die entscheidende Streitfrage zwischen der byzantinischen Reichskirche und der armenischen Kirche war die Christologie des Konzils von Chalkedon: Jesus Christus ist Gott und Mensch, ist eine Person in zwei Naturen. «Um der Wahrheit des Glaubens willen» hatte das Konzil so entschieden, und «um der Wahrheit des Glaubens willen» hatte die armenische Kirche Chalkedon zurückgewiesen und auf einer Natur (mia physis) beharrt. Als sprachkundiger Theologe zeigt nun Nerses auf, dass die beiden Bekenntnisse einander nicht widersprechen. «Zu sagen, dass Christus Gott und Mensch ist, und von zwei Naturen zu sprechen, kommt aufs Gleiche heraus. Oder vielmehr: Die erste Formel drückt klar nicht nur die Wesenheit aus, sondern auch die Definition der Wesenheit, und die zweite drückt einfach die Wesenheit aus, ohne sie zu definieren.»5 Diese Aussage erläutert Nerses eingehend, sodass er abschliessend festhalten kann, dass zwischen dem Glaubensbekenntnis der Griechen und dem Glaubensbekenntnis der Armenier betreffend Christus kein Widerspruch besteht, «denn in der Tat schreiten wir und sind wir immer auf dem gleichen Weg geschritten».6 Für Nerses, wie schon für armenische Theologen vor ihm, kann ein Bruch der Gemeinschaft zwischen Griechen und Armeniern nicht «um der Wahrheit des Glaubens willen» erfolgt sein, ist «die Wahrheit des Glaubens » deshalb kein Grund, die Gemeinschaft zu verweigern.
Wenn das so klar ist, weshalb wurde dann die Gemeinschaft nicht wieder aufgenommen? Nerses verweist auf Menschliches und Allzumenschliches: «Die menschliche Natur liebt den Widerspruch. Sie haben die Wörter, die die Wahrheit und den Frieden verteidigen wollten, verachtet, was aber zur Feindschaft aufstachelte, haben sie geliebt und geschrieben.»7 Der Bruch der Einheit der Kirche Christi ist menschliche Schuld. Dahinter sieht Nerses sogar das Wirken «des bösen Feindes»: Er trennte die Einheit der Kirche in verschiedene Teile, er zerstörte den Tempel Gottes. Nerses rief darum die auf der Synode versammelten Bischöfe auf, dieses Übel mit dem Guten zu besiegen. «Versuchen wir also, als Erste zum Quell des Friedens zu werden. Versuchen wir, den andern zuvorzukommen in der Bewässerung des Paradieses der Eintracht.»8 Die Synode konnte dem jungen Priestermönch jedoch nicht folgen. Jahre später reiste er zu Unionsverhandlungen nach Konstantinopel, kehrte aber stark enttäuscht heim.
Gut 800 Jahre später erklärte die gemischte Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Orthodoxen Kirche und den Orientalisch- Orthodoxen Kirchen, zu denen die Armenisch- Apostolische Kirche gehört, ein grosses gegenseitiges Einvernehmen. «Diejenigen unter uns, die von zwei Naturen in Christus sprechen, leugnen dadurch nicht deren ungetrennte und ungesonderte Einigung; und diejenigen unter uns, die von einer in Christus geeinten gott-menschlichen Natur sprechen, leugnen dadurch nicht die fortwährend dynamische Gegenwart des Göttlichen und des Menschlichen in Christus, unverwandelt und unvermischt.»9 Die von der Kommission den Kirchen empfohlenen Schritte warten indes noch darauf, unternommen zu werden.