«Du willst Gehorsam leben? Das widerspricht doch deinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit.» So kommt es jungen Frauen entgegen, die unserem Orden beitreten. Sie sind gewohnt, in grosser Autonomie eigene Entscheidungen zu treffen und ein hohes Mass an Verantwortung wahrzunehmen. Wohlgemerkt: Menschenwürde als eine transzendentale Bestimmung des Menschen versteht sich als elementarer Achtungsanspruch, der ausnahmslos jedem Menschen zukommt. Eine junge Frau, die einem Orden beitritt, legt ihr Menschsein an der Klosterpforte nicht ab.
Menschwürde kommt vor Recht
Das oberste Lehramt des Papstes und des Konzils beschreiben in der Enzyklika «Pacem in terris» (1963), in der Erklärung über die Religionsfreiheit des Konzils «Dignitatis humanae [personae]» (1965) sowie in der Enzyklika «Fratelli tutti» (2020) den Charakter der dem Menschen innewohnenden Menschenwürde als egalisierend. Denn die unveräusserliche Würde und daraus folgende Rechte kommen dem Menschen aufgrund seines Menschseins zu. Sie liegen jeder positiven Gesetzgebung – auch der des Kirchenrechts – unverfügbar voraus.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat Menschenwürde und Menschenrechte vorbehaltlos bejaht.1 Somit bestimmen freier Wille und Gewissensfreiheit die menschliche Person, wie der Rechtsphilosoph Gerhard Luf konstatiert: «Bedeutsam für die Achtung der Personalität des Gewissens ist […], dass der legitimerweise geforderte religiöse Gehorsam nicht schlechthin zu leisten ist, sondern nochmals unter den Anspruch des Gewissens gestellt und damit in seiner Freiheitlichkeit erkannt und anerkannt wird.»2
Kein blinder Gehorsam
In «Perfectae caritatis» fordert das Konzil vom Ordensmitglied beim Vollzug des Ordensgehorsams «die eigene Verstandes- und Willenskraft ein[zu]setzen» (PC 14,2), also Verantwortung zu übernehmen. «So führt der Ordensgehorsam, weit entfernt, die Würde der menschlichen Person zu mindern, diese durch die grösser gewordene Freiheit der Kinder Gottes zu ihrer Reife» (PC 14,2). Ordensgehorsam bezieht sich immer auf den Sendungsauftrag eines Ordens. Er meint kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis des Ordensmitglieds von der jeweiligen Autoritätsperson. Dennoch impliziert ein Leitungsdienst immer eine gewisse Machtposition. Daher appellieren die römischen Leitlinien «Für jungen Wein neue Schläuche»3 an die Leitungsverantwortlichen der Orden, «nicht zu infantilen Einstellungen [zu] ermutigen, die zu verantwortungsfreiem Verhalten führen können. Eine solche Linie wird Menschen wohl kaum zur Reife führen» (JWNS 21).
Kirchenrecht steht im Widerspruch
Brisant ist, dass gemäss dem geltenden Kirchenrecht von 1983 Ordensgehorsam zur «Unterwerfung des [eigenen] Willens gegenüber den rechtmässigen Oberen» verpflichtet (c. 601). Hier widerspricht sich das Lehramt selbst: Konzilslehre versus Kirchenrecht. Das bedarf dringend einer Änderung, denn auch die Rechtsetzung der Kirche steht im Dienst der Würde der Person. Ein falsch verstandenes Verständnis von Ordensgehorsam kann schnell zu Missbrauch führen.
Menschenwürde zeichnet den Menschen als Verantwortungssubjekt aus. Somit sind Autonomie und Gehorsam wie zwei Seiten einer Medaille. «Faciem tuam» (2008) bezeichnet die menschliche Autonomie als gottgewollt.4 Nur für eine Person, die sich gemäss dem Konzil als individuelles Subjekt des Glaubens wahrnimmt und sich im Horizont einer dialogischen, kommunikativen Beziehung frei erlebt, ist echter Ordensgehorsam möglich.
Franziska Mitterer