Orthodoxe Praxis bei Geschiedenen Wiederverheirateten*

In der Ausserordentlichen Bischofssynode 2014 plädierte eine deutliche Mehrheit der Bischöfe dafür, unter genau umrissenen Bedingungen geschiedenen Wiederverheirateten den Zugang zu den Sakramenten zu ermöglichen.1

Die Lehre der Kirche

Die Worte Jesu gegen die Ehescheidung (vgl. Mt 5,32; Lk 16,18; Mk 10,2-12; Mt 19.3–9; 1 Kor 7,10– 16) werden in der katholischen Lehre im Sinne eines Scheidungsverbots (vgl. c. 1085 § 1) interpretiert. Daher schreibt Papst Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben «Familiaris Consortio»: «Die Kirche bekräftigt (…) ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mal zuzulassen.»2 Der entscheidende Punkt des objektiven Widerspruchs ist die Geschlechtsgemeinschaft der zweiten Beziehung im Verhältnis zum weiterbestehenden Eheband der ersten Beziehung. Denn der Ehekonsens umschreibt c. 1081 CIC 1917 «als einen Willensakt, durch den Mann und Frau gegenseitig und für immer das ausschliessliche eheliche Verfügungsrecht über ihren Leib übertragen und empfangen».3

Dieses vorkonziliare Ehekonsensverständnis ist aber seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und dem CIC 1983 nicht mehr in Kraft. Warum können wieder verheiratet Geschiedene zur Kommunion, wenn sie versprechen, wie Schwester und Bruder zusammenzuleben? Warum werden sie zu den Sakramenten zugelassen in «Familiaris Consortio», wenn sie sich verpflichten, auf die geschlechtliche Vereinigung zu verzichten? Kurz: wegen des «ius in corpus» des CIC 1917, d. h. wegen des lebenslangen und ausschliesslichen Rechts auf den Körper zur geschlechtlichen Vereinigung (c. 1081 CIC 1917), so Matthäus Kaiser.4 Dieses vorkonziliare Eherechtsverständnis (c. 1081 CIC 1917) wird auch von Kurt Koch kritisiert: Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Eheverständnis der Kirche erneuert: «Und genau darin liegt das eigentliche Problem, das hinter den heutigen Auseinandersetzungen auf der pastoralen Ebene steht.»5

Rechtslage der lateinischen Kirche

Betrachten wir zuerst kurz die Rechtslage im CIC 1983: Wo die Kirche aus Treue gegenüber der Botschaft Jesu gebunden ist, kennt sie im Einzelfall alte Rechtsprinzipien wie die Epikie, die kanonische Billigkeit («aequitas canonica»), die «oikonomia» oder auch die Toleranz und Dispens, um dem obersten Gesetz der Kirche dem Heil der Seelen («salus animarum»)6 entsprechen zu können.

Dazu kommt eine sachdienliche Interpretation des positiven Rechtstextes: Jede christgläubige Person hat das Recht auf den Empfang der Eucharistie (c. 213). Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Die Nichtzulassung zur Eucharistie ist damit nur dann zulässig, wenn dies die gesetzliche Grundlage verlangt. Diejenigen, die «hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren» (c. 915), dürfen nicht zur heiligen Kommunion zugelassen werden. Es ist klar, dass das Leben von geschiedenen Wiederverheirateten der kirchlichen Lehre widerspricht.

Die Frage des Eucharistieempfangs von geschiedenen Wiederverheirateten ist aber im Kontext von c. 916 CIC 1983 zu beantworten. Wer sich subjektiv «einer schweren Sünde bewusst ist» (c. 916), darf ohne vorherige sakramentale Beichte nicht die Eucharistie empfangen. «Im Unterschied zu 915 richtet sich 916 also nicht an den Spender der Kommunion[, sondern an den Empfänger]. (…) Mit 916 liegt aber insofern eine Ergänzung zu 915 vor, als dass hier dessen eng auszulegende Kriterien durch den Aufruf zur Selbstbeurteilung ein gewisses Korrektiv erfahren.»7 Oder anders ausgedrückt: Die Norm des Kanon 916 stellt «nicht auf öffentlich feststellbare Fakten, sondern auf das Gewissensurteil des Einzelnen ab. Kanon 916 schärft eine moralische Pflicht ein und enthält keinen rechtlichen Ausschlussgrund, der vom Kommunionsspender bzw. vom minister sacer wahrgenommen werden könnte. Wäre der Spender gleichzeitig Beichtvater des Empfängers, so dürfte er das in Zusammenhang mit der Beichte erworbene Wissen für die Zulassung zur Eucharistie im forum externum nicht verwenden».8 Somit kann die Argumentation mit Wilhelm Rees zusammengefasst werden: «Niemand ausser dem Sünder selbst kann hinreichend sicher wissen, dass er ein Sünder ist»9 und deshalb nicht zur Kommunion gehen darf. Der Kommunionspender weiss zudem nicht, ob der geschiedenen Wiederverheiratete im Beichtsakrament sich entschieden hat, wie Bruder und Schwester zusammenzuleben. Dann ist er zur Kommunion nach Familiaris Consortio Nr. 8410 zuzulassen.

Zwischenergebnis

Als Zwischenergebnis ist mit Helmuth Pree und Klaus Lüdicke11 festzuhalten: Kanon 915 ist nach «Familiaris Consortio» nicht anwendbar auf die geschiedenen Wiederverheirateten, weil der Kommunionspender nicht weiss, ob die geschiedenen Wiederverheirateten wie Bruder und Schwester zusammenleben.

Der kirchliche Gesetzgeber des CIC 1983 schweigt bezüglich Ehescheidung und Wiederheirat. «Die staatliche Scheidung (…) kirchenrechtlich gültiger Ehen wird im CIC nicht ausdrücklich verurteilt.»12 Wenn aber durch die Scheidung ausschliesslich die Ordnung der zivilen Rechtsfolgen der Trennung von Tisch und Bett, wie sie auch der CIC 1983 vorsieht (cc. 1151–1155), geregelt werden soll, «widerspricht diese Absicht nicht dem Kirchenrecht (…). Wer die staatliche Scheidung in diesem Sinn in Anspruch nimmt, verstösst dadurch auch nicht gegen sittliche Forderungen; er kann daher nicht als ‹öffentlicher Sünder› angesehen werden. Die andere, gegen die Unauflöslichkeit gerichtete Absicht darf nicht vermutet werden. Die Schuld, die etwa im Zerbrechen der Ehe liegt, ist meist nicht eindeutig für die Öffentlichkeit feststellbar (…). Überdies steht jede Schuld unter der Barmherzigkeit Gottes, der sie durch den Dienst der Kirche vergibt. Es besteht also nach allgemeinem Kirchenrecht kein Grund zu einer Rechtseinschränkung oder Diskriminierung (nicht wiederverheirateter) Geschiedener.»13

Das Scheidungsverbot Jesu hat daher zu zwei unterschiedlichen kirchlichen Traditionen geführt im Umgang mit den geschiedenen Wiederverheirateten:

  • zur strengeren Praxis in der Westkirche;
  • zu einer milderen Praxis in den Ostkirchen.

Rechtslage der griechisch-orthodoxen Kirche

Ich beschränke mich im Folgenden auf die orthodoxe Praxis in der Kirche von Griechenland. Barmherzigkeit hat hier einen kirchenrechtlichen Begriff: «oikonomia». Im Rahmen der Orthodoxie bestehen Unterschiede, wie die «oikonomia» verstanden und wie sie auf die Ehe angewandt werden kann.

Die «oikonomia» ist sowohl ein metakanonisches als auch kanonisches Prinzip.14

Die göttliche «oikonomia» ist das Kommen Gottes zu den Menschen («kenosis»). In dem Gott in die Geschichte eingeht, treten Geschichte und Welt in die Sphäre der göttlichen Heilsoikonomia ein.

Die kirchliche «oikonomia» folgt der göttlichen «kenosis» und erhebt Gläubige zu Gott («theosis»). Die kirchliche «oikonomia» steht somit in der grösseren Perspektive der gesamten Heilsökonomie Gottes. Sie ist eine Nachahmung der göttlichen Menschenliebe. «Seid barmherzig, wie es euer Vater ist!» (Luk 6,36).

Unter den kanonischen Aspekten der «oikonomia»15 fällt die vom Heiligen Geist inspirierte Art der Kirche im Umgang mit Normen kanonischen und disziplinären Charakters. Kanonische «oikonomia» wird in Verbindung zur «akribeia» gesetzt, die das Handeln der Kirche gemäss der kanonischen Vorschriften bezeichnet.

Die kanonische «oikonomia» ist ein Grundprinzip, das aus dem Heilshandeln Gottes (göttliche «oikonomia») und seiner Verbindlichkeit für das kirchliche Handeln (kirchliche «oikonomia») abgeleitet wird.

Das Ziel der Kirche – das Heil der Menschen – besteht aber unabhängig von «akribeia» oder «oikonomia». Vorrangiges Ziel der Kirche ist es, die Gläubigen zur «theosis» zu führen, d. h. zur Erhebung zu Gott. Die absolute Vorrangigkeit dieses Anliegens lässt die Relativität aller anderen Normen deutlich werden. Die Kirche als authentische Verwalterin der göttlichen Gnade ist durch ihre historischen Gegebenheiten, seien es Kanones, Gewohnheiten oder Institutionen, nicht eingeschränkt.

Im Umgang Jesu mit der Ehebrecherin und dem Gesetz (Joh 8,3–5) kommt die spirituelle Ausrichtung zum Ausdruck, welche die orthodoxe Kirche gegenüber dem gescheiterten und sündigen Menschen zu verfolgen sucht. Wenn durch die strenge Anwendung einer Norm («akribeia») ein gescheiterter Mensch aus dem Heilsweg der Kirche mit Gott fällt, so widerspricht eine solche Gesetzesinterpretation dem obersten Ziel der Kirche, der Theosis.

Mit der «oikonomia» kennt die griechisch-orthodoxe Kirche eine Möglichkeit des milden, barmherzigen Umgangs mit den wiederverheirateten Geschiedenen, die den Sakramentenempfang und eine kirchliche Wiederheirat ermöglicht, ohne die Unauflöslichkeit der Ehe als grundlegende Forderung aufzugeben.

Barmherzige Rechtsanwendung auch in der Westkirche?

Gibt es ein mit der «oikonomia» vergleichbares Prinzip auch in der römisch-katholischen Kirche? Gibt es eine barmherzige Anwendung der Norm?

Die in Frage kommenden Rechtsinstitute, die die Elastizität des lateinischen Kirchenrechts gewährleisten sollen (Dispens, Privileg, Suppletion, «sanatio in radice», Dissimulatio, «tolerantia», «licentia», «excusatio» und Epikie), sind kaum mit der «oikonomia» vergleichbar.

Im letzten Kanon (c. 1752) wird die Sinnbestimmung der vorausgehenden Gesetze als «salus animarum», als Heil der Menschen,16 zusammengefasst. Damit stimmt die Sinnbestimmung des CIC 1983 mit jener des Konzils überein (LG 8; 10; DV 10, 18; GS 76, 40 usw.) Die «salus animarum» ist im Blick auf den CIC 1983 das übergeordnete Prinzip der gesamten kanonischen Rechtsordnung. Das Heil der Seele ist das oberste Gesetz.17

Dieser Kanon 1752 verbindet die «salus animarum» mit der «aequitas canonica». Dieses Verständnis der «aequitas canonica» ist einmalig im CIC 1983, weil nur hier die biblisch-patristische «misericordia»-Tradition vom CIC 1983 wieder aufgenommen wird.18 Ein Vergleich zwischen kanonischer «oikonomia» und der «aequitas canonica» zeigt, dass beide Rechtsinstrumente bei der Rechtsanwendung bei aller Unterschiedlichkeit19 ein gemeinsames Ziel verfolgen: die «salus animarum», das Heil der Menschen bei Gott. Auch die «aequitas canonica» ermöglicht es dem Rechtsanwender im Einzelfall um des Seelenheils willen die Strenge des Gesetzes zu durchbrechen. Diese beiden Rechtsinstitute der fallgerechten Abwägung verschiedener Interessen dient dazu, dem Heil der Seelen rechtliche Realität zu verschaffen.

Kann die «aequitas canonica» im Verständnis von c. 1752 auch auf die Problematik der Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Eucharistie (c. 915) angewandt werden? Bei der «aequitas canonica» dispensiert die Kirche nicht von der Unauflöslichkeit der Ehe. Es stellt sich aber die Frage, ob in Bezug auf die Rechtsfolgen einer zweiten Ehe (d. h. den Ausschluss vom Eucharistieempfang gemäss c. 915) eine milde Haltung möglich ist. Diese besteht darin, dass der Sakramentenspender (als Rechtsanwender) die Sanktion des Ausschlusses von dem Eucharistieempfang nicht anwendet, weil er ja gar nicht wissen kann wie oben darstellt, ob es sich um einen öffentlichen Sünder handelt.

Die Wiederheirat Geschiedener

Der Anwendung der «aequitas canonica» auf die wiederverheirateten Geschiedenen stehe die «iure divino» begründete absolute Unauflöslichkeit der Ehe entgegen, meinen Autoren, obwohl dies nicht explizit in den entsprechenden Canones (cc. 1141, 108520) des CIC 1983 steht. Würde also die «de iure divino» begründete absolute Unauflöslichkeit der sakramentalen und vollzogenen Ehe die Anwendung des Prinzips der «aequitas canonica» auf 1085 § 1 (Wiederheirat) ausschliessen?

Zur Beantwortung dieser Frage ist die «ius-divinum»-Diskussion in der Kirchenrechtswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Der Satz «salus animarum suprema lex» (c. 1752 CIC 1983) gibt die Richtung der Konkretisierung von Recht in der Kirche an. Das «ius divinum» der Unauflöslichkeit steht dem «ius divinum» der «salus animarum» entgegen, wenn Geschiedene und geschiedene Wiederverheiratete massenweise aus der Kirche ausziehen.

Die Merkmale des «ius divinum» im CIC 1983 (Unwandelbarkeit, Indispensabilität, universelle Geltung) können gar nicht auf die Unauflöslichkeit der Ehe angewandt werden, weil es zu allen drei Kriterien nachweisliche Ausnahmen gegeben hat. Zum Beispiel wurde die Wiederverheiratung in den orthodoxen Kirchen vom römisch-katholischen Lehramt nie verurteilt (vgl. Trienter Konzil). Das Zweite Vatikanische Konzil hält sogar fest: «Es darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben, dass die Kirchen des Orients von Anfang an einen Schatz besitzen, aus dem die Kirche des Abendlandes in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung vielfach geschöpft hat» (UR 14 b).

Kann die römisch-katholische Kirche sich also auch in der Frage der «aequitas canonica» von der «oikonomia» inspirieren lassen? Ich möchte die Frage klar bejahen, weil das Lehramt der katholischen Kirche in seiner ganzen Tradition nie Nein dazu gesagt hat und das Konzil von Trient gerade deshalb lang um Formulierungen ringen musste. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die orthodoxe Rechtstradition ausdrücklich gelobt und empfohlen daraus zu schöpfen (UR 14 b), was hiermit geschehen ist.

Vier Thesen:

  1. Kanon 915 kann wegen des Apostolischen Schreibens «Familiaris consortio» Nr. 84 nicht auf die wiederverheirateten Geschiedenen angewendet werden. Der Sakramentenspender weiss nicht, ob die geschiedenen Wiederverheirateten seit der letzten Beichte wie Bruder und Schwester zusammenleben. Damit weiss er nicht, ob es sich um «hartnäckig in einer offenkundig schweren Sünde» (c. 915) verharrende Personen handelt.
  2. Aufgrund «des Heils der Seelen», das in der Kirche immer oberstes Gesetz ist (c. 1752), hat der CIC 1983 mit der «aequitas canonica» in c. 1752, ein der orthodoxen Praxis der «oikonomia» vergleichbares Prinzip geschaffen. So könnte von der strikten Anwendung von c. 915 abgesehen werden. Die wiederverheirateten Geschiedenen müssten im Blick auf ihr Seelenheil (c. 1752) von der Eucharistie nicht ausgeschlossen werden.21
  3. Aufgrund der «aequitas canonica» könnte auch von c. 1085 §1 abgesehen werden und eine zweite nichtsakramentale Ehe toleriert werden. Dies setzt aber voraus, dass in der Ehedoktrin nicht mehr vom CIC 1917 («ius in corpus» c. 1081) ausgegangen wird wie in «Familiaris consortio», sondern vom Zweiten Vatikanischen Konzil (GS 47–52) und vom CIC 1983.
    Das Eheband-Denken im Sinne des personalen Eheansatzes des Konzils (GS 47–52) verändert den Ehekonsens (c. 1057 § 2 CIC 1983). Wo die Ehe nur noch ein Abstraktum bar jeder personalen Beziehung ist, gilt es, die Tatsache wie in der Orthodoxie ernst zu nehmen, dass eine solche Ehe tot ist und nicht mehr existiert.
    Nach Vatikanum II könnte die «ius divinum»- Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe, falls es sie im CIC denn gäbe, nicht mehr auf c. 1081 CIC 1917 aufbauen, der nicht mehr in Kraft ist. Im heutigen Rechtsrahmen bleibt das Eheband bestehen, auch wenn die zwischenpersonale Beziehung zerstört ist. Deshalb ist eine nachfolgende Ehe ein Bruch mit diesem Eheband und objektiv eine schwere Sünde.
    Das Eherecht müsste noch stärker im Kontext der personalen Beziehung des Eheverständnisses von Vatikanum II (GS 47–52) verstanden werden. Dabei könnte, wie bei der Ehetheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Orthodoxie die römische-katholische Kirche inspirieren. Wie im Trienter Konzil gilt es die Praxis der Orthodoxie nicht zu verurteilen.
  4. Beim Sakramentenempfang geht es um ein höchstes Gut im unmittelbaren Heilsinteresse der Person, «welches niemals durch eine blosse [!] Rechtsnorm behindert werden kann».22 Dies ist ein Beispiel dafür, «dass die Güterabwägung es in optimaler Weise auch im Kirchenrecht [der lateinischen Kirche] ermöglicht, eine dem Einzelfall entsprechende Lösung zu finden, ohne den Absolutheitsanspruch in irgendeiner Weise zu gefährden oder, wie hier, die Unauflöslichkeit auszuhöhlen, denn nur wenn ein anerkanntermassen höheres Gut als das Rechtsgut der Unauflöslichkeit der Ehe dafür spricht, wird im Interesse der Person und damit auch des kirchlichen bonum commune davon abgegangen – im Prinzip genau das, was die Kirche seit Jahrhunderten im Falle der Ehelösung aus Gründen des Glaubens (eben ein Höchstwert) praktiziert».23

 

Damit sind Kriterien für die Bischofssynode 2015 formuliert, weil eine deutliche Mehrheit der Bischöfe auf der Bischofssynode von 2014 bereit war, den Zugang zu den Sakramenten auch den geschiedenen Wiederverheirateten zu ermöglichen.

Auch der Bischof von Rom, Papst Franziskus, misst der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes einen zentralen Stellenwert in seiner Verkündigung bei. Das zeigt sich in den Vorbereitungen zur bevorstehenden Bischofssynode zu Fragen von Ehe und Familie und in der Ausrufung eines Heiligen Jahrs der Barmherzigkeit.24

Schlussfolgerung

Papst Franziskus «nahm offensichtlich die Realität seiner Heimatdiözese mit mehrheitlich ‹irregulären› Ehe- und Familiensituationen, wo er mit seiner Theologie der Barmherzigkeit Präsenz markiert hatte, gedanklich nach Rom mit».25

In jeder Ortskirche ist das oberste Gesetz das Heil der Seelen, das als rechtliches Instrument die «aequitas canonica» kennt. (c. 1752) Eine Codexinterpretation, die den Exodus der Geschiedenen und geschiedenen Wiederverheirateten aus der Kirche in Kauf nimmt, kann der Barmherzigkeit Gottes nicht entsprechen, weil eine solche Interpretation 50 Prozent der Verheirateten in der Schweiz, die scheiden26, von der Eucharistie27 trennt – und damit von einer Hochform der Begegnung mit Gott.

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* Prof. Dr. Adrian Loretan hielt das hier abgedruckte Referat am Studientag der Schweizer Bischofskonferenz vom 31. August 2015 in Bern.

 

1 Vgl. Peter Neuer: Nicht immer schwere Sünde: Herder Korrespondenz 69 (2015), Nr. 6, 27–30.

2 Johannes Paul II: Adhortatio Apostolica «Familiaris Consortio» ad Episcopos, Sacerdotes et Christifideles totius Ecclesiae Catholicae vom 22. November 1981, Nr. 84 in: AAS 74 (1982), 81–191, hier 185; dt.: Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben FAMILIARIS CONSORTIO an die Bischöfe, Priester und Gläubigen der ganzen Kirche über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 33). Bonn 1981, 87–88, hier 88.

3 Heribert Jone: Gesetzbuch des kanonischen Rechtes, Erklärungen der Kanones Bd. II. Paderborn 1940, 282: «Consensus matrimonialis est actus voluntatis quo utraque pars tradit et acceptat ius in corpus, perpetuum et exclusivum, in ordine ad actus per se aptos ad prolis generationem» c. 1081 CIC 1917.

4 Vgl. Matthäus Kaiser: Warum dürfen wiederverheiratete Geschiedene (nicht) zu den Sakramenten zugelassen werden?, in: Stimmen der Zeit 118 (1993), 741–751, hier 742–744.

5 Kurt Koch: Besteht der Dissens wirklich nur auf der Ebene der pastoralen Praxis?, in: SKZ 163 (1995), 24–28, hier 25.

6 C. 1752 CIC 1983.

7 R. Althaus: c. 916, Rdnr. 2b, in: Münsterische Kommentar zum CIC (Stand Juli 2004).

8 Helmut Pree: «Unio Irregularis». Der Sakramentenempfang von Geschiedenen, geschiedenen Wiederverheirateten, ehelos Zusammenlebenden und nur zivil verehelichten Katholiken nach kanonischem Recht, in: Klaus Lüdicke / Hans Paarhammer / Dieter A. Binder (Hrsg.): Neue Positionen des Kirchenrechts. Graz 1994, 119–152, bes. 141–150, 145 f.

9 Wilhelm Rees: Zwischen Bewahrung und Erneuerung. Zu Entdeckungen und (Weiter-)Entwicklungen im Recht der römisch-katholischen Kirche, in: Jus quia iustum. Festschrift für Helmut Pree zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Elmar Güthoff und Stephan Häring. Berlin 2015, 81–111, hier 97.

10 «Das heisst konkret, dass, wenn die beiden Partner aus ernsthaften Gründen – zum Beispiel wegen der Erziehung der Kinder – der Verpflichtung zur Trennung nicht nachkommen können, sie sich verpflichten, völlig enthaltsam zu leben, d.h. sich der Akte zu enthalten, welche Eheleuten vorbehalten ist» (Familiaris Consortio Nr. 84).

11 Klaus Lüdicke: Wieso eigentlich Barmherzigkeit? Die wiederverheirateten Geschiedenen und der Sakramentenempfang, in: Herder Korrespondenz 66 (2012), 335–340, hier 337.

12 Hans Heimerl / Helmut Pree: Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht. Wien-New York 1983, 268.

13 Ebd.

14 Wenn man die «oikonomia» in erster Linie als Rechtsinstitut und Applika-tionsprinzip der «kanonischen Oikonomia» interpretiert, kann man diese nicht auf die geschiedenen Wiederverheirateten anwenden. Doch dies wird dem Prinzip der «oikonomia» nicht gerecht. Vgl. Thomas Schüller: Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Würzburg 1993.

15 Ich beziehe mich im Folgenden auf diese ausgezeichnete Studie von Andréa Belliger: Die wieder verheirateten Geschiedenen, eine ökumenische Studie im Blick auf die römisch-katholische und griechisch-orthodoxe (Rechts-)Tradition der Unauflöslichkeit der Ehe. Essen 2000.

16 Wörtlich: Heil der Seelen.

17 «… salute animarum, quae in Ecclesia suprema semper lex esse debet» (c. 1752).

18 Davon ist zu unterscheiden die aristotelische Epikielehre bei Thomas von Aquin und Francisco Suarez und die römische Aequitas- Vorstellung bei Gratian. Die «aequitas canonica»- Vorstellung des Kanon 19 CIC 1983 ist ein Interpreta-tionsprinzip in der rechtsphilosophischen Tradition, die in der aristotelischen Epikielehre verwurzelt ist.

19 Papst Paul VI. hat die «aequitas canonica» nach einem langen Unterbruch für das kanonische Recht der Lateiner wieder eingeführt. Die Orthodoxie hingegen kennt eine durchgehende Tradition der «oikonomia».

20 Rees, zwischen Bewahrung und Erneuerung (wie Anm. 9), 94.

21 Dies ist jetzt schon anzuwenden, da hier griechisch-orthodoxe und römisch-katholische kirchenrechtliche gewichtige Autoren und sogar die Mehrheit der Bischofssynode 2014 übereinstimmend gelesen werden können.

22 Helmuth Pree: Die Ehe als Bezugswirklichkeit. Bemerkungen zur individual- und Sozialdimension des kanonischen Eherechts, in: Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 33 (1982), 339–396, hier 396; Helmuth Pree: Le mariage en tant que réalité relationnelle. Remarques sur les dimensions individuelles et sociales du droit matrimonial canonique, in: Revue de droit canonique 35 (1985), 62–85.

23 Pree, Die Ehe als Bezugswirklichkeit (wie Anm. 22), 396. Prof. DDr. Helmuth Pree ist ein langjähriger Vizepräsident der Consociatio Internationalis Studio Canonici Promovendo, dem in der 2015 erschienen Festschrift Francesco Card. Coccopalmerio dankt für seine «langjährige fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte»: Francesco Card. Coccopalmerio, Grusswort, in: Ius quia iustum. Festschrift für Helmut Pree zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Elmar Güthoff und Stephan Häring. Berlin 2015, 15.

24 Misericordiae vultus. Verkündigungsbulle des ausserordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit: «Ein ausserordentliches Heiliges Jahr also, um im Alltag die Barmherzigkeit zu leben, die der Vater uns von Anbeginn entgegenbringt. Lassen wir uns in diesem Jubiläum von Gott überraschen»: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/bulls/documents/papa-francesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html (Stand: 25. August 2015) «Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am 11. April (…) 2015, im dritten Jahr meines Pontifikats.»

25 So Urban Fink-Wagner, in: Familienrealitäten, in: SKZ 183 (2015), 429.

26 Zirka 50 Prozent der Ehen werden in der Schweiz geschieden. Vgl. Arnd Bünker / Hanspeter Schmitt (Hrsg.): Familienvielfalt in der katholischen Kirche. Geschichten und Reflexionen. Zürich 2015.

27 Der Kirche ist die Gedächtnisfeier seines Todes und seiner Auferstehung anvertraut: «das Ostermal, in dem Christus genossen, das Herz mit Gnade erfüllt und uns das Unterpfand der künftigen Herrlichkeit gegeben wird» (SC 47).

Adrian Loretan

Adrian Loretan

Prof. Dr. Adrian Loretan ist Ordinarius für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern und Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht