Vorbemerkung: Sowohl mit diesem Märchen wie auch mit seiner Opern-Fassung auf der Bühne begeben wir Wissenden der aufgeklärten Neuzeit uns auf heikles Terrain. Wir können diese Geschichte um zwei Kinder in der Gewalt einer dämonischen Macht, die sie gefangen hält und schliesslich fressen will, nicht trennen von allem Schrecklichen, was an Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch und Pädophilie geschehen ist und weiterhin geschieht. Ein unglaublicher Balanceakt darum, dieses Werk in Anwesenheit von glücklichen Kindern zu geniessen (man vergleiche etwa die heiter-fröhliche Verfilmung der Inszenierung von August Everding aus dem Jahre 1981 mit Brigitte Fassbaender und Edita Gruberova in den Hauptrollen, bei der schon in der Ouvertüre glückliche Kinderaugen leuchten). Wir wissen: Die Abgründe, die sich hinter unseren Lieblingsmärchen auftun, sind gewaltig (etwas davon lebt sogar in der Oper dahingehend fort, als dass der Part der bösen Hexe oftmals mit einem männlichen Sänger besetzt wird).
Inszeniertes Happy End
Der Schatten, den Richard Wagner nach seinem Tod 1883 warf, war im deutschsprachigen Raum so erdrückend, dass sich kaum ein Komponist noch an das Genre Oper wagte. Engelbert Humperdinck (1854–1921) löste das Problem für sich so, dass er statt der germanischen Mythen Märchen als Stoffe für seine Versuche wählte. Dabei stiess er auf das Grimm’sche Märchen. Betrachten wir den Originaltext, den uns unsere Eltern ja nicht so drastisch erzählt haben. Dort, wo im Märchen die Situation der im Wald ausgesetzten Geschwister immer aussichtsloser wird, wird uns Folgendes berichtet:
«Sie gingen die ganze Nacht und noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der Erde standen. Und weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein […] Nun war‘s schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten. Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald, und wenn nicht bald Hilfe kam, mussten sie verschmachten.»
Einsamkeit, Hunger und der mögliche Tod, das alles schwingt hier mit, nachdem schon elterliche Gewalt vorausgegangen ist und noch weitaus schlimmere Gewalt im Wald auf die Kinder wartet. Wie kann daraus eine Märchen-Oper werden, schon gar die meist um Weihnachten herum aufgeführte (Uraufführung am 23. Dezember 1893 in Weimar) Kinder-Oper schlechthin, die sich bis heute im Repertoire der grossen Häuser gehalten hat? Da bedarf es klarer Eingriffe im Text, sprich im Libretto. Dieses schrieb Humperdincks Schwester Adelheid Wette (1858–1916), eine Akademiker-Gattin in gehobenen Verhältnissen.
Und so wurde aus dem finsteren Stoff aus dem fernen Mittelalter ein bürgerlich-romantisches Rührstück mit bewusst totalem Happy End. Der Handlungsablauf wird im Wesentlichen gewahrt, doch die Tonalität ist eine ganz andere. Schon sehr deutlich zeigt sich das im «Finale» des dritten Aktes: Während im Märchen Hänsel und Gretel, nachdem die Hexe verbrannt ist, in den Schubladen ihres Häuschens Perlen und Edelsteine finden, die die materielle Not der Familie schliesslich lindern können, verwandeln sich die Lebkuchenwände des Häuschens in der Oper in viele verschwundene und entführte Kinder zurück, die alle Opfer der Hexe geworden sind (ein Motiv übrigens, das Astrid Lindgren in «Mio, mein Mio» abgewandelt verwendet). Der schreckliche Gedanke, dass da ein pädophiles Monster gehaust hat, verblasst zugunsten eines «Fidelio»-ähnlichen Schlussjubels.
Zauberhafte Hilfe
Noch mehr zeigt sich der Happy-End-Charakter im Privaten: So wie die Rolle der Eltern – bei denen ja im Original die Stiefmutter die Kinder im Wald bewusst aussetzen will, und deshalb, wie sie trotzdem zurückkehren, dann auch verstorben ist, ethisch bedingt verstorben sein muss – in die Harmlosigkeit gedreht wird (die Eltern machen sich auf die Suche nach den Kindern, finden die befreite Kinderschar und stimmen in den Jubel ein – und am Ende leben alle vier glücklich weiter), so erhalten Hänsel und Gretel in der Einsamkeit des Waldes nun bewusst Besuch und Sukkurs, sowohl tierischen wie zauberwesenartigen. So wie sie am nächsten Tag vom Taumännchen geweckt und fröhlich begrüsst werden, so streut ihnen am Abend das Sandmännchen (ein liebenswerter Verwandter des Puck aus Shakespeares «A Midsummer Night’s Dream») sein Beruhigungselixier in die Augen.
Es herrscht in der Waldnacht-Szene der Oper darum keine traurige Aussichtslosigkeit: Wie es brave Kinder um die Jahrhundertwende in ihren warmen Betten wohl auch taten, so beten in Frau Wettes Libretto die beiden nun ihr Nachtgebet und schlafen dann ein. Und damit kommen nun die Engel ins Spiel, denn die Geschwister singen gemeinsam, ein Kinderlied aus «Des Knaben Wunderhorn» (Sammlung von Volksliedtexten von Clemens Brentano und Achim von Arnim, 1805–1808) verwendend, folgenden Text:
Abends will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füssen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zweie, die mich decken,
zweie, die mich wecken,
zweie, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!»
Hier begibt sich nun im Finale des zweiten Aktes auch das Zauber- und Märchenhafte, weit von der Originalerzählung entfernt, kaum vernünftig inszenierbar, ohne ins ungewollt Komische abzugleiten. Die besungenen vierzehn Engel schreiten auf einer Treppe aus dem Abendnebel zu den Kindern hinunter und bilden einen Kreis um sie. Die beiden letzten, vom Libretto explizit als «Schutzengel» bezeichnet, treten in diesen Kreis und nehmen neben den Kindern Platz. Frau Wette beschliesst die Szene mit dieser Regieanweisung: «[…] während die übrigen sich die Hände reichen und einen feierlichen Reigen um die Gruppe aufführen. Indem sie sich zu einem malerischen Schlussbilde ordnen, schliesst sich langsam der Vorhang.»
Umgeben von Bodyguards
Für uns Theologinnen und Theologen ist dies natürlich äusserst spannend. Das Konzept des Schutzengels ist für die christliche Erziehung und das christliche Weltverständnis eines der prägenden. Ab dem dritten Jahrhundert wurden schon vorhandene biblische Belegstellen (Ps 91, Gen 18, Mt 16) zu einer Glaubensaussage, wie sie der Katechismus, den heiligen Basilius zitierend, so formuliert: «Jedem Gläubigen steht ein Engel als Beschützer und Hirte zur Seite, um ihn zum Leben zu führen» (KKK 336). Die Wanderung und einsame Rettungsaktion des jungen Tobit (zugunsten seines blinden Vaters!), bei der ihn der Engel Raphael begleitet und beschützt und ihm sogar zur richtigen Frau verhilft, ist das bekannteste biblische Bild. Hier in der Märchen-Oper wird es für Kinder verdeutlicht. Die Botschaft, die das Libretto aussendet, ist dieselbe des Aphorismus: Wo die Not am höchsten ist, da ist Gottes Hilfe am nächsten.
Ein deutscher Kirchenfürst der Neuzeit, äusserst umstritten in seinem Umgang mit dem Missbrauchsskandal, formulierte dies für Kinder und Jugendliche auch schon so: «Ich bin mir übrigens ganz sicher, jeder von uns hat einen Bodyguard. Einen, der da ist, wenn man ihn braucht. Der Schutz und Halt gibt in unsicheren Zeiten. Früher nannte man einen solchen Bodyguard übrigens Schutzengel.»
Vierzehn Bodyguards rings um uns in Zeiten von Not und Bedrängnis, das wäre nun schon bald das Happy End in einem Katastrophenfilm unserer Zeit.
Heinz Angehrn