Unerträglich schwül und gewittrig waren die Tage, seit ich in den Ostalpen auf dem Weg bin. Ich laufe Unwettern davon oder ihnen hinterher. Und manchmal erwischen sie mich doch, wie vor einigen Tagen, als ich zusammengekauert unter einem Felsen hockte, während rundum Blitze zuckten und das krachende, grollende Echo von allen steinernen Wänden ohrenbetäubend zurückgeworfen wurde.
Dazwischen gibt es natürlich auch die glücklichen und schönen Momente eines jeden Weges. Erst gestern war der Anblick der Sterne – erstmals auf dieser Tour – ein fast schon unerwartetes Geschenk. Dazu kommen Begegnungen, berührende Orte des Gebets und Geschichten. Wie zum Beispiel am fünften Tag, an dem die erste echte Passtraverse anstand.
Der Tag begann frühmorgens und führte zunächst in die herrliche Tolminka-Schlucht (SVN) mit ihren unwirklichen Farben. Von dort ging es das Tal hoch zur Heilig-Geist-Kapelle von Javorca – gebaut von Handwerkern der Donaumonarchie, die der «grosse Krieg» an die Front geführt hatte. Im selben Jahr, als dort die fünf Isonzo- schlachten die Menschen fras- sen, bauten die Soldaten unter den Gipfelstellungen ein Gotteshaus im verspielten Jugendstil. «Pax» (Friede) steht auf dem Kirchturm, hoch über all den Wappen der Kronländer, als Sehnsucht, Versprechen, Hilferuf. Im Inneren haben die Erbauer noch im Kriegsjahr 1916 über 2800 Namen in alte Deckel von Munitionskisten eingebrannt – jeder Eintrag ein Menschenleben, das nach wenigen Kapiteln abrupt zu Ende ging. Ein solcher Ort lässt nicht unberührt, und mit vielen Gedanken stieg ich weiter in die Berge, bald schon weglos über meterhohen Altschnee kletternd, in der Hoffnung, den richtigen Übergang zu finden. Als ich gegen 19 Uhr zur Hütte kam, traf ich dort eine Gruppe Österreicher, unterhielt mich nett, beschloss jedoch, noch 1000 Meter abzusteigen. Ein Fehler, denn der Weg – eine alte Militärstrasse – nahm mit seinen unzähligen Windungen kein Ende. Bald lief ich mit der Stirnlampe im Dunkeln und kam erst um 22 Uhr bei der nächsten Hütte an, die geschlossen war. Vor dieser Hütte sass Janes, ein nicht mehr ganz nüchterner Herr aus Laibach, der gehofft hatte, das Licht, das da die vielen Serpentinen den Berg hinunterprozessiert war, gehöre einem Autofahrer, der ihn in die Zivilisation mitnehmen würde. Auto hatte ich freilich keines, aber er beschloss dennoch, sich mir anzuschliessen. Janes – erfreut über unseren gleichen Namenspatron – nahm seine Plastikflasche mit klarer Flüssigkeit unter den Arm und schlurfte in vielen kleinen Schritten, anfangs noch etwas wackelig, neben mir her. Auf Englisch unterhielten wir uns mit langen Pausen dazwischen und stapften durch die Dunkelheit. Dann beschloss ich, einer Abkürzung statt der Strasse zu folgen, und stand wenig später mit Janes knöcheltief in einem Sumpf zwischen umgestürzten Bäumen. «Ein schöner Hirte bist du», murmelte ich zu mir selbst beim Blick auf meine «kleine Herde», den armen Janes, dessen Schuhwerk nicht ganz passend für die Unternehmung war. Wir kämpften uns durch, doch mein Gefährte blieb im nächsten Dorf – sein Vertrauen in mich war sichtlich erschöpft. Ich ging weiter, bis ich kurz vor Mitternacht am Campingplatz ankam.
1000 Kilometer liegen nun hinter mir, 3000 habe ich noch vor mir, und jeder Tag bringt – wie in unser aller Leben – etwas Neues.
Johannes Maria Schwarz