SKZ: Lectio-Divina-Projekte gibt es in Deutschland seit 2008. Welches sind die wesentlichen Elemente dieser moderneren Form?
Die mittelalterliche Form der Lectio Divina nennt vier Stufen auf dieser «Leiter zum Himmel» (Guigo der Karthäuser): die lectio (das Lesen), die meditatio (das Nachsinnen), die oratio (das Gebet) und die contemplatio (das Wirkenlassen, Verkosten und «Schauen»). Für die lectio und meditatio haben wir in unserer modernen Form zwei «Leseschlüssel» entwickelt, die helfen sollen, Text und Leserin bzw. Leser ins Gespräch zu bringen. Sie sind das Herzstück unserer Lectio-Divina-Leseprojekte. Der Leseschlüssel für die lectio heisst «Ich lese den Text». Er gibt meist zwei bis drei Textbeobachtungsfragen an die Hand, mit denen die Lesenden den Text selbst entdecken können. Der Leseschlüssel für die meditatio heisst «Der Text liest mich». Hier stellen wir Fragen, die der Text an unser Leben in Gesellschaft und Kirche, aber auch ganz privat stellt. Wir haben unsere Form der Lectio Divina im Untertitel «Bibellesen mit Herz und Verstand» genannt. Der erste Leseschlüssel bedient den Verstand, der zweite das Herz.
Wo sehen Sie das Potenzial und die Grenzen von Lectio Divina für die Pastoral?
Ich glaube, dass die Lectio Divina für die Zukunft unserer Kirche an Bedeutung gewinnen wird, da sie in ihrer ritualisierten Form eigentlich eine Wort-Gottes-Feier ist und von Laien geleitet werden kann. Da sind wir nicht auf Priester angewiesen, sogar nicht einmal auf theologisch ausgebildetes Personal, wenngleich es hilfreich ist, wenn Hauptamtliche im Lectio-Team dabei sind. Aber die Materialien sind ausführlich, die Form einfach, die Leitungsrolle beschränkt sich auf Abläufe. Wir empfehlen auch, die Leitung der Lectio-Treffen in einem Team aufzuteilen, um die Stärken vieler einzubringen und sich selbst zu entlasten. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass für viele katholische Gläubige die intensive Begegnung mit dem Bibeltext vielleicht doch noch ungewohnt ist. Die Lectio-Kreise bleiben überschaubar von der Grösse her. Aber jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie entstehen auch neue Formen, Lectio-Gottesdienste zum Beispiel. Da erleben wir vielleicht gerade einen Entwicklungsschub. Die Lectio Divina ist in ihrer Einfachheit sehr flexibel und variabel. Durch die gottesdienstliche Form könnten vielleicht auch mehr Menschen vom intensiven und vertieften Lesen der Schrift profitieren.
Was empfehlen Sie, wenn ein Pastoralteam die Lectio Divina in der Gemeinde vorstellen und einführen will?
Ich glaube, das Wichtigste ist, Lust darauf zu haben, dass sich die Bibel als Wort Gottes ins eigene Leben, in die Arbeit und die Konzepte einmischen darf. Wenn ich selbst das Gefühl habe, es könnte mir und anderen guttun, die Bibel als spirituelle Quelle und Impulsgeber zu nutzen und Gott im Leben mehr zu Wort kommen zu lassen; wenn ich das Gefühl habe, die Bibel könnte eine gute spirituelle Nahrung für mich und andere in dieser Zeit sein, dann ist das der allerbeste Anfang. Denn der «Erfolg» der Lectio Divina ist sehr unterschiedlich: In den meisten Gemeinden werden keine Massen bewegt, ausser man macht so ein spannendes und gross angelegtes Projekt wie das Lectio-Divina-Projekt zur Apostelgeschichte in Eislingen, das den ganzen Ort mobilisiert hat. Aber vielleicht sind auch kleine Gruppen sehr erfolgreich: wenn Menschen lernen, aufeinander zu hören, neue Wege für sich sehen, im Glauben sprachfähig werden. Vielleicht ist die Lectio Divina sogar auch dann erfolgreich, wenn sie uns und unsere Pläne und Konzepte anfragt.
Interview: Maria Hässig