Traumatische Erfahrungen

(Bild: Martin Jäger/pixelio.com)

 

Darüber Schweigen ist verboten und Sprechen unmöglich. Bei einem traumatischen Erlebnis fürchtet ein Mensch um sein Leben. Aufgrund seiner starken Angst schüttet er Stresshormone aus. Die Stresshormone verhindern, dass die Erinnerung an das Erlebnis «ordentlich» in das chronologische Gedächtnis abgespeichert wird. Sie bleibt in einer Art Zwischenspeicher liegen, kann dort durch Trigger aktiviert werden und ist dann auf einmal wieder ganz präsent. Der Schweissgeruch der Menschen im überfüllten Bus erinnert an den Übelkeit auslösenden Geruch des Vergewaltigers; das Quietschen eines bremsenden Autos an die Sekunden vor dem Unfall; das Geräusch des Helikopters, der den grossen Weihnachtsbaum auf den Domplatz transportiert, an die Kampfhelikopter im Bürgerkrieg.

Ich arbeite als Psychiaterin mit geflüchteten Menschen, die Folter und Krieg überlebt haben. Oft wollen meine Patienten über das, was sie in ihren Heimatländern oder auf dem Fluchtweg erlebt haben, nicht sprechen, denn auch das Sprechen aktiviert die Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse. Und mit den Erinnerungen an die Bedrohung ist die Angst verknüpft, die sie damals hatten. Diese Angst ist so stark und unangenehm, dass sie sie vermeiden wollen. Einige haben deswegen in ihrem Asylverfahren den Behörden nicht alles berichtet, und in der Erzählung ihrer Lebensgeschichte gibt es Lücken und Ungereimtheiten.

In der Traumatherapie versuchen wir Therapeutinnen die Gegenwart unserer Patienten mit der Vergangenheit zu kontrastieren. Wir helfen ihnen zu realisieren, dass sich die unsäglichen Angstgefühle auf Situationen der Vergangenheit und nicht auf die Gegenwart beziehen – und deswegen fallengelassen werden können. Wir helfen ihnen, das mit vielen Misshandlungen einhergehende Schamgefühl zu regulieren. Durch ein detailreiches Gespräch über das Erlebte kann es im biografischen Gedächtnis abgespeichert werden und belastet nicht mehr das Kurzzeitgedächtnis.

Doch Forschungen in den letzten Jahren haben gezeigt, dass nicht nur Psychotherapie nötig ist, damit traumatisierten Menschen sich wieder erholen können. Genauso wichtig ist eine soziale Umgebung, die ihr Leiden anerkennt und das geschehene Unrecht deutlich moralisch verurteilt. Erst dann fühlen sie sich wieder dazugehörig und sicher. Erst dann können sie wieder Vertrauen in die Mitmenschen aufbauen.

«Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich» konstatiert Elie Wiesel in einem Gespräch mit Jorge Semprún, beide Überlebende der Konzentrationslager, als sie gemeinsam über ihre Schwierigkeiten nachdenken, anderen Menschen von ihren Lagererfahrungen zu berichten. Obwohl aber beide Männer durch ihre Erinnerungen heftigst geplagt und an Albträumen gelitten haben, haben sie versucht, durch ihre Bücher Zeugnis abzulegen. Wir sind es den Überlebenden schuldig, ihnen genau zuzuhören.

Bernice Staub*

 

* Bernice Staub ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.