«Umbau im Kirchenschiff auf hoher See»

Die Kirche befindet sich mitten in einem grossen Transformationsprozess. Gregor Maria Hoff beschreibt in seinem Buch «In Auflösung. Über die Gegenwart des römischen Katholizismus»1, was zur Wandlung der bisherigen Form beiträgt.

Prof. Dr. Gregor Maria Hoff (Jg. 1964) studierte klassische Philologie, katholische Theologie, Philosophie und Germanistik in Bonn und Frankfurt a. M. Seit 2003 ist er Universitätsprofessor für Fundamentaltheologie und ökumenische Theologie in Salzburg. (Bild: Harald Oppitz/KNA)

 

SKZ: Herr Hoff, Sie thematisieren die Auflösung des römischen Katholizismus. Was sind seine Merkmale?
Gregor Maria Hoff: Das spezifisch römische Profil des Katholizismus zeichnet sich durch seine Rechtskultur aus: durch Klarheit und Verbindlichkeit der Rechtsordnung. Im dogmatischen Bereich entspricht dem die verlässliche Abrufbarkeit von Glaubensbestimmungen, wie sie der römische Katechismus seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts festlegt. Sie garantiert die römische Kurie mit ihrem weltkirchlichen Controlling und dem Papst an der Spitze. Die monarchische Regierungsform des Stellvertreters Christi und seine ästhetische Repräsentativität haben Rom über die Jahrhunderte zu einem besonderen Anziehungsort katholischer Kirchlichkeit gemacht – nicht zuletzt mit dem Bezug zu den Apostelfürsten Petrus und Paulus. Diese Repräsentationslogik hat auch eine politische Seite – die bis heute wirksamen diplomatischen Netzwerke des Vatikans und politische Friedensagenden spiegeln matt wider, was politischer Katholizismus lange Zeit bedeutet hat: Ansprüche auf direkte politische Einwirkung gehörten zum Ensemble des päpstlichen Selbstverständnisses bis weit ins 20. Jahrhundert.

Was führt dazu, dass er sich auflöst?
Unter globalen Pluralisierungsbedingungen lässt sich die zentralrömische Gouvernementalität nicht mehr konsequent durchhalten. Probleme vor Ort fordern kirchliche Entscheidungskompetenzen und pastorale Handlungsspielräume, die wiederum den gelebten Glauben betreffen. Kommunionempfang für wiederverheiratete Geschiedene oder nichtkatholische Partner in konfessionsverbindenden Ehen stellen exemplarische Felder begrenzter Durchgriffsfähigkeit der Kurie dar. In digitalisierten gesellschaftlichen Gegenwarten erreichen Pluralisierungseffekte die Mitgliederbindung der römisch-katholische Kirche – mit Ambiguitätszuwächsen. Ausgerechnet der amtierende Papst erweist sich dabei als ein Ambiguitätsverstärker. Seine pastoral bestimmten Aussagen, nicht selten spontan getroffen, koordinieren die pastorale Wirklichkeit und die Glaubensfestlegungen der reinen Lehre neu und anders als unter den letzten Päpsten. Dogmatische wie rechtliche Formsicherheit lösen sich auf. Dem entsprechen die vielfältigen katholischen Kulturen in der Weltkirche – mit Übergängen von katholischer, evangelikaler, pentekostaler Spiritualität, aber auch religionssoziologisch in der gelebten Kirchlichkeit von Katholikinnen und Katholiken. Die Bedeutung der klassisch römisch-katholischen Marker nimmt für viele Gläubige zumindest in offenen, westlich geprägten Gesellschaften ab – und auch der dogmatisch approbierte Glaube, wie die jüngste Studie der EKD belegt.

Der Theologe und Religionswissenschaftler Massimo Faggioli schreibt, dass das System, das sich während des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der ersten nachkonziliaren Phase etabliert habe, nicht mehr funktioniere und dass die Überbetonung des Bischofsamtes auch nicht mehr tragfähig sei.2 Wie sehen Sie es?
Das bischöflich Amt steckt in der schwersten Krise seit der Reformation. Der systemisch bedingte Missbrauchskomplex der römisch-katholischen Kirche zeigt: Bischöfe waren Täter, Bischöfe haben konsequent Missbrauchstaten vertuscht und Täter im Zeichen des Amtes geschützt. Die ontologisch-sakramentale Disposition des bischöflichen Amtes hat daran nichts geändert, hat nicht vor Machtmissbrauch geschützt. Da es nicht um Einzeltäter und -taten geht, greift die dadurch ausgelöste Glaubwürdigkeitskrise tief in das theologische Verständnis des Amtes ein – und löst Vertrauen auf, letztlich: Glauben. Nicht zuletzt deswegen muss das bischöfliche Amt theologisch neu gedacht und anders im kirchlichen Gefüge eingeordnet werden. Der Synodale Weg in Deutschland hat dafür performativ Marker gesetzt, indem Bischöfe und Nicht-Bischöfe gemeinsam beraten und entschieden haben. Aus Sicht der römischen Kurie wurde dies als unmöglich erklärt, während Papst Franziskus federstrichartig vor der ersten römischen Synodalversammlung im Oktober 2023 genau dies ermöglich hat. Auch dies stellt ein komplexes Auflösungsmoment dar.

Sie kommen im Buch auf den pentekostalen Katholizismus zu sprechen. Ich erlebe die jungen Menschen, die sich z. B. bei Adoray engagieren, als jene, die Katholisches bewusst pflegen. Das scheint mir ein Widerspruch. Wie tragen sie dennoch zur Auflösung des römischen Katholizismus bei?
Die spirituelle Kultur spielt dabei die entscheidende Rolle: die kommunikative Form der Selbstorganisation. In der Loretto-Bewegung bestimmen pentekostale Formen die Spiritualität sehr stark. Die kulturellen Übergänge zwischen Konfessionen, die sich dogmatisch unterscheiden, bilden neue gelebte Konstellationen. Dabei ist interessant, welche Rolle Laien statt Priester für die Selbstorganisation spielen. Und auch hier nehmen Pluralisierungseffekte zu – etwa mit akuten Bekehrungen, mit spontanen Ausdrucksformen, die etwa den geordneten römischen Messritus der Form nach beachten, ihn aber liturgisch in eventartige Formate überführen. Das kulturelle Auflösungsmoment ist hier entscheidend.

Im 16. und 19. Jahrhundert war der römische Katholizismus Antwort auf die damaligen Krisen. Welche kirchliche Gestalt ist jetzt Antwort auf die heutige Krise? Wie sehen Sie die katholische Kirche zukünftig?
Der entwickelte römische Katholizismus des 16. und 19. Jahrhunderts hat je eigene Antworten auf Krisen gefunden, die aber in der Form kirchlicher Organisation einen Zusammenhang bilden. Dieser Zusammenhang wird im Zeichen einer synodalen Kirche anders gefasst und wird sich institutionell anders ausbilden. Weltkirchlicher. Weniger römisch. Insofern ist das synodale Projekt von Papst Franziskus ekklesiologisch mit Blick auf die Theologie und kirchenpraktisch wohl das stärkste Auflösungsmoment. In dieser Richtung wird sich die katholische Kirche weiter entwickeln. Das öffnet ökumenische Handlungsspielräume – aber ob eine synodale katholische Kirche in dynamischen, global unterschiedlich verlaufenden Säkularisierungsprozessen an Prägekraft zunimmt, sprich: Antworten auf gesellschaftliche wie politische und eben auch christentumsgeschichtliche, kircheninterne Krisen findet, lässt sich beim Umbau des Kirchenschiffs auf offener See kaum ausmachen. Das betrifft auch die moralischen, politischen Interventionen von Kirche und Papst. Der Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung, für entrechtete, arme Menschen, für Migrantinnen und Migranten wird gehört und geschätzt. Wenn die Kirche dafür steht, kann sie Menschen erreichen – das aber ist stärker vom Blick auf die Lebenswirklichkeiten von Menschen bestimmt als von vorgefassten Glaubenssätzen. Insofern hängen die Krisenbewältigungspolitik der römischen Kirche und die Zukunftsfähigkeit einer synodalen Kirche komplex zusammen – gerade mit Blick auf die Zuwachsraten in den Kirchen von Afrika und Asien.

Welche Bedeutung wird zukünftig Rom bzw. dem Bischof von Rom zukommen?
Er bleibt als sichtbarer Magnet und Ausdruck kirchlicher Einheit ein wichtiger Faktor. Die Festlegungen seines Lehr- und Jurisdiktionsprimats bilden einen festen dogmatischen Anker der katholischen Ekklesiologie. Hier wird sich zeigen, ob die Historisierung von Dogmen weiter reicht, als bislang vorstellbar und durchsetzungsfähig erscheint. Das beträfe dann auch die Frage nach der ekklesiologischen Regie, die dem Papst weiter zukommt. Kirchenpraktisch kann der Papst aber genau deshalb mehr synodale Entscheidungsmacht einräumen und sich an synodale Entscheidungen binden. Insofern kann die Umstellung auf eine synodale Kirche auch das römische Papsttum verändern – und tut es wohl bereits jetzt schon.

Wie ordnen Sie den weltweiten synodalen Prozess in dieser Phase der Auflösung ein?
Die römisch-katholische Kirche kannte in ihrer Geschichte Synoden und natürlich Konzilien – aber sie war, abgesehen vom kurzen historischen Krisen-Intermezzo des Konziliarismus – nie eine syndodale Kirche (und das war auch der Konziliarismus nicht wirklich). Mit der zunehmenden Beteiligung des gesamten Volkes Gottes führt eine synodale Kirche das römisch-kuriale Leitungsprojekt an Belastungsgrenzen, unter denen es sich jetzt schon erkennbar in seiner regulativen Durchschlagskraft auflöst. Dass die deutschen Bischöfe trotz kurialer Kritik den Synodalen Ausschuss gebildet und ihren Synodalen Rat auf den Weg bringen, mag dafür als ein Symbol dienen – und zwar gerade deshalb, weil es hier nicht um eine Art Nationalkirche geht, sondern dort Fragen und Agenden, die  weltkirchlich adressiert werden, aufgenommen und umgesetzt werden – gegen kuriales Bestehen auf vermeintlich Unveränderliches, Unaufgebbares.

Was ist aus Ihrer Sicht aus dem römischen Katholizismus zu bewahren und zu aktualisieren?
Der römische Katholizismus hat ein reiches Traditionsreservoir spiritueller, liturgischer, theologischer Ausdrucksformen geschaffen. Rom als Attraktionsort katholischer Kircheneinheit wird bleiben und schafft Erfahrungsräume katholischer Lebenszusammenhänge. Die Geschichte wird hier anschaulich – das ist ein wichtiger Bezugspunkt für eine Kirche, die ihre Glaubensbestimmung aus guten Gründen als dynamischen Zusammenhang von Schrift und Tradition entwickelt.

Wie können wir Brücken bauen zwischen jenen, die eine Neugestaltung anvisieren, und jenen, die die bisherige Gestalt bewahren wollen?
Die kommunikative Form der römischen synodalen Beratungen haben offensichtlich Wirkung gezeigt. Zuhören, sich aufeinander einlassen, dem inneren Zusammenhang von Gebet, Beratung und Entscheidung in der Weise Raum geben, dass man sich die Katholizität nicht gegenseitig abspricht, auch wenn es massive Differenzen gibt. Es braucht hier Lernzeit und entsprechende Prozesse. Das Zweite Vatikanische Konzil hat gezeigt, was möglich ist. Aber auf Dauer werden sich direkte Gegensätze in menschenrechtsbasierten Fragen nicht einfach katholisch kassieren lassen – etwa bei der Frage nach der Einschätzung von Homosexualität, von queeren Menschen, bei der Frage nach der Frauenordination. Die Spannungen nehmen zu, und sie müssen ggf. im Konflikt aufgelöst werden – so wie es die katholische Kirche nach dem Konzil im Umgang mit der Pius-Bruderschaft tun musste.

Welche Schritte braucht es von beiden Seiten?
Wer sich wirklich auf ein synodales Kirchenprojekt einlässt, kann den katholisch Anderen wertschätzen. Ich habe auf dem Synodalen Weg in dieser Hinsicht gute, produktive Erfahrungen machen dürfen, auch und gerade weil sich die Unterschiede und auch Gegensätze nicht auflösen liessen. Aber dafür gibt es kirchenentscheidungspraktisch auch Zeit-Gedulds-Grenzen, die von denen gesetzt werden, die ausgeschlossen oder übersehen werden. Der erste, entscheidende Schritt in dieser Situation muss aber der sein, konsequent die systemischen Ursachen des katholischen Missbrauchskomplexes aufzulösen. Das sehe ich in Rom und auch beim ersten römischen Synodaltreffen nicht.

Interview: Maria Hässig

 

1 Siehe Buchhinweis auf S. 26.

2 Siehe Herderkorrespondenz 9/2023, 26–29.

Buchempfehlung: «In Auflösung. Über die Gegenwart des römischen Katholizismus». Von Gregor Maria Hoff. Freiburg i. Br. 2023. ISBN 978-3-451-39684-7, CHF 41.90. www.herder.de