Das Apostolische Schreiben «Aperuit illis» (AI) zur Einführung des «Sonntags des Wortes Gottes» vom 30. September 2019 hält fest, dass «der der Bibel gewidmete Tag […] nicht ‹einmal im Jahr›, sondern einmal für das ganze Jahr stattfinden [soll]» (AI 8). Begründend fährt Papst Franziskus fort: «Wir verspüren nämlich die dringende Notwendigkeit, uns mit der Heiligen Schrift und dem Auferstandenen eng vertraut zu machen […]» (ebd.). Der Sonntag des Wortes Gottes soll also Impulsgeber für eine biblische Spiritualität sein und zwar nicht nur für einzelne Christinnen und Christen, sondern für die Gemeinschaft der Gläubigen (vgl. AI 1).
Von der Liturgie erwartet Franziskus indes noch etwas anderes: Der performative Charakter des Wortes Gottes, der auf seinem sakramentalen Charakter beruht, werde vor allem im liturgischen Handeln deutlich (AI 2, mit Bezug auf das nachsynodale Schreiben «Verbum Domini» 56). Performative Rede verändert eine Situation, sie verändert Beziehungen: Wenn Standesbeamte erklären, dass eine Ehe geschlossen wurde, kann niemand hinterher so tun, als sei nichts geschehen. Doch wie ist das, wenn im Gottesdienst aus den Heiligen Schriften verkündet wird? Werden die Mitfeiernden bestätigen, dass hier etwas geschehen ist? Oder was trägt dazu bei, dass sie eine Veränderung ihrer Situation und eine Veränderung der Beziehung mit Jesus Christus und untereinander erfahren? Der erste, noch vor der Feier liegende Schritt ist die Erwartung der Mitfeiernden, dass durch das Hören etwas mit ihnen passiert. Diese Haltung ist alles andere als selbstverständlich. Der zweite Schritt ist die Erfahrbarkeit des performativen, bzw. sakramentalen Charakters, den die liturgische Verkündigung realisiert. Die rituelle Inszenierung, die sprachliche Gestaltung und eine zentrierende Auslegung tragen dazu bei.
Rituelle Inszenierung
In einer Eucharistie- wie in der Wort-Gottes-Feier kann das Buch, aus dem das Wort Gottes verkündigt wird, beim Einzug feierlich hereingetragen werden. Kreuzträger und Ministrierende mit Weihrauch gehen voraus, es folgt der Diakon oder ein Lektor bzw. eine Lektorin, dann der Zelebrant. Wird in der Eucharistiefeier das Evangeliar verwendet, so ist es in der Wort-Gottes-Feier das Lektionar. Am Sonntag des Wortes Gottes ist die Verwendung des Lektionars oder einer Bibel vorzuziehen, denn «nicht nur ein Teil, sondern alle Schriften sprechen von ihm [Christus]» (AI 7). Oder mit der Liturgiekonstitution (Nr. 7) gesprochen: «Gegenwärtig ist er in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden.»
Am Zielpunkt der Einzugsprozession muss ein Ort bereitstehen, an dem das Buch bis zur Verkündigung aufgestellt oder niedergelegt wird und an den es danach auch wieder zurückkehrt. Papst Franziskus hält es für wichtig, «dass die Heilige Schrift während der Eucharistiefeier inthronisiert werden kann, um der Versammlung der Gläubigen den normativen Wert des Wortes Gottes zu verdeutlichen» (AI 3). Dazu braucht es einen Ständer oder ein Pult an einer gut sichtbaren, zentralen Stelle vor oder im Altarraum. In Kapellen ist das zuweilen nicht möglich, so dass der Altar zum «Thron» des Buches wird. Wenn dem Wort Gottes in Gestalt des Buches Präsenz verliehen werden soll, legt sich eine Prozession zum Ambo nahe. Nimmt man ernst, dass alle Schriften von Christus sprechen und er durch sie in der Mitte der Versammlung gegenwärtig ist, wird diese Prozession vor der ersten Lesung mit dem Lektionar erfolgen, so wie es das Deutschschweizer Feierbuch «Die Wort-Gottes-Feier am Sonntag» vorsieht.* Für das Jahr 2020 legten die liturgischen Institute im deutschen Sprachgebiet daher auf der Basis dieses deutschschweizerischen Feierbuchs einen entsprechenden Vorschlag für den Sonntag des Wortes Gottes vor.1 Nach der Verkündigung des Evangeliums wird das Lektionar zum Ort des Buches zurückgeführt und bleibt dort aufgeschlagen liegen.
Die Inszenierung des Wortes Gottes unter Zuhilfenahme eines Buches ruft zuweilen Kritik hervor: Entscheidend sei das gesprochene und gehörte Wort und nicht das Buch. «Aparuit illis» unterstützt das: «Der biblische Glaube gründet also auf dem lebendigen Wort, nicht auf einem Buch» (AI 11). Gleichwohl wird eine Inthronisation vorgeschlagen. Tatsächlich hat die Evangelienprozession mit Halleluja-Ruf, dem Kuss des Buches, dem Erheben des Evangeliars usw. eine lange Tradition, die keineswegs zu einem idolatrischen Buchkult führte. Vielmehr verweisen diese Zeichenhandlungen auf das gesprochene und gehörte Wort. Was so flüchtig ist wie das gerade gesprochene Wort, wird in seiner Würde durch diese Zeichen unterstrichen. Deshalb besteht m. E. kein Widerspruch zwischen der Priorität des Hörens und der visuellen, kinetischen und taktilen Inszenierung nicht nur des Evangeliars, sondern – aufgrund der Wertschätzung der ganzen Heiligen Schrift – auch des Lektionars.
Sprachliche Gestaltung
Der Zielpunkt des gesprochenen und gehörten Wortes der Heiligen Schrift ist «das Heute derer, die sich von diesem Wort nähren» (ebd. 12). Verkündigung ist nicht Information, sondern eine Ansage, die in die Gegenwart des Auferstandenen führt, die verwandelt, weil sie die Beziehung zu ihm aktualisiert. Ohne das Wirken des Heiligen Geistes in den Hörenden wäre das nicht möglich. Das mindert die Herausforderung des sprachlichen Vortrags durch Lektorinnen und Lektoren, Diakone oder Priester und fallweise andere keinesfalls. Ihre Aufgabe ist nicht das Vorlesen eines Textes, vielmehr geben sie ihm durch die Art ihres Vortrags Gestalt. Sie modulieren das zu verkündigende Wort durch schnelles oder langsameres Sprechen, durch Pausen, Erheben und Senken der Stimme, durch Erzählstimme, berichtenden Ton und vieles andere. Wenn der Glaube vom Hören kommt (Röm 10,17), gebührt dem Vortrag jedes Mal auf’s Neue höchste Aufmerksamkeit und liebevolle Vorbereitung. Das Wort Gottes ist immer neu, es erschöpft sich nicht nach dem ersten Lesen, es bietet immer etwas an, das zu entdecken ist, es bleibt spannend. Wo Vortragende etwas Neues erwarten, das sie nicht kennen, obwohl sie eine Perikope möglicherweise schon viele Male gehört oder gelesen haben, überträgt sich diese Haltung in ihre Stimme und damit übermitteln sie das Neue, das die Gläubigen als Gemeinschaft und als Einzelne verändert. Vortragende «machen» das nicht, sie leihen ihre Stimme, stellen sich dem zur Verfügung, der durch sie spricht. In diesem Bewusstsein dürfen und sollen sie so lesen, dass die Hörenden spüren, dass hier etwas für sie höchst Relevantes passiert, dem sie sich nicht entziehen können – und wollen. Natürlich wird das je nach Schriftlesung unterschiedlich ausfallen. Wenn es sich bei der Verkündigung um Gotteswort in Menschenwort handelt (AI 9), hat die sprachliche Gestaltung einen sehr hohen Anteil an der Freilegung dieser Dimension. Ohne sie verkommt die rituelle Inszenierung zur Staffage.
Zentrierende Auslegung
Zur Homilie heisst es in der «Aparuit illis»: «Wenn man innehält, um den Bibeltext zu meditieren und im Gebet zu betrachten, dann wird man fähig, mit dem Herzen zu sprechen, um die Herzen der Zuhörer zu erreichen, sodass das Wesentliche zum Ausdruck kommt, das erfasst wird und Frucht bringt» (AI 5). Auch hier wird von Verwandlung gesprochen, denn wenn die Herzen der Zuhörenden durch die Worte der Homilie «das Wesentliche» erfassen, bringen diese Frucht. Was ist dieses Wesentliche? Papst Franziskus benennt in seinem Schreiben zahlreiche Wirkungen des biblischen Wortes, die christologisch gebündelt werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: «Jesus Christus klopft durch die Heilige Schrift an unsere Tür; wenn wir zuhören und die Tür des Geistes und des Herzens öffnen, dann tritt er in unser Leben ein und bleibt bei uns» (AI 8). Das Wesentliche ist die Person des auferstandenen Herrn. Das Beziehungsgeschehen, das Menschen durch die Wortverkündigung verändern kann, hat hier seine personale Mitte. So lässt sich auch verstehen, dass der Papst der Homilie «einen geradezu sakramentalen Charakter» (AI 5) zuspricht. Wandlung erfolgt in diesem Teil der Eucharistiefeier durch die Christusbegegnung im Wort der Predigt. Eine oder die Aufgabe der Homilie ist also, die Begegnung mit Christus zu ermöglichen. Dazu braucht es die ganze Schrift – auch der Auferstandene erschloss den Emmausjüngern Tod und Auferstehung aus den Schriften –, exegetische Kenntnisse und biblische Theologie, Schriftmeditation. Eine Homilie, die die Herzen der Hörenden erreicht, wird sie zu Christus führen, in dessen Nähe sie im Wort verweilen und den sie im Sakrament der Eucharistie empfangen. Und dann kann niemand hinterher so tun, als sei nichts passiert.
Gunda Brüske