«Viele wissen nicht, dass hier Christen leben»

Der erste Papstbesuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) rückte die Christen vor Ort in den Fokus. Bischof Paul Hinder erlebte den Besuch aus nächster Nähe und gibt Einblicke in ihre Situation.

Bischof Paul Hinder an der Jugendkonferenz 2018 in Ras al-Khaimah (VAE). (Bild: zvg)

 

SKZ: Bischof Paul Hinder, was hat Sie beim Papstbesuch1 am meisten beeindruckt?
Bischof Paul Hinder: Zunächst die gemeinsame Autofahrt mit Papst Franziskus von der Kathedrale zum Sportgelände, während der ich einige Dinge mit ihm besprechen konnte. Sehr bewegt haben mich der Einzug mit dem Papamobil und der freudige Willkommensgruss von mehr als 130'000 Gläubigen. Höhepunkt war die Eucharistiefeier im Stadion. Sie war ein Glaubensfest, wo die Gegenwart Christi spürbar war.

Was bedeutet dieser Besuch den Christen vor Ort und in der Region?
Die Anerkennung unserer Existenz! Viele wissen nicht einmal, dass hier Christen leben. Oder dann heisst es: «Ja, es gibt sie, aber es sind ja nur Migranten!» Der Papstbesuch vermittelte das Gefühl: «Wir werden nicht vergessen! Simon Petrus stärkt uns im Glauben!»

Welche Gefässe und Initiativen interreligiöser Begegnung sind denn an der Basis auszumachen?
Die meisten Migranten in den VAE – ungefähr 80 Prozent der Wohnbevölkerung – sprechen kein Arabisch. Eine substanzielle Auseinandersetzung mit dem Islam ist daher schwierig. Viele Christen kennen ihren eigenen Glauben nur ungenügend und haben vom Islam wenig Kenntnis. Das gilt auch für die meisten Muslime, die ihrerseits wenig Glaubenswissen und zudem vom Christentum kaum eine Ahnung haben. So beschränkt sich der Dialog im Alltag auf gewisse Äusserungen der jeweiligen Glaubenspraxis. Auf politischer und akademischer Ebene gibt es viele Initiativen, deren Bedeutung ich nicht mindern will. Ihre Auswirkung auf die Allgemeinheit der Bevölkerung – Einheimische wie Migranten – ist aber eher gering. Am wirkungsvollsten sind konkrete Initiativen im sozial-karitativen Bereich, etwa in der gegenseitigen Wahrnehmung der Festzeiten, oder die von Muslimen und Christen gemeinsam besuchten Schulen, die zum Respekt vor den jeweils anderen erziehen.

In welchem Mass wird den Christen und anderen nichtmuslimischen Religionen in den VAE Religionsfreiheit gewährt?
Wir müssen zwischen Religionsfreiheit und Gottesdienstfreiheit unterscheiden. Religionsfreiheit im Sinne der allgemeinen Menschenrechte existiert praktisch in keinem muslimischen Land. Falls die Anfang Februar in Abu Dhabi von Papst Franziskus und Grossimam Ahmad Al-Tayyeb unterzeichnete Erklärung Wirkung zeitigt, könnte sich diesbezüglich einiges ändern. Es heisst dort: «Die Tatsache, dass Leute gezwungen werden, einer bestimmten Religion oder Kultur anzugehören, ist zu verwerfen.» Bezüglich Gottesdienstfreiheit gibt die muslimische Welt ein widersprüchliches Bild ab: Während in Saudi-Arabien keine Kirchen und Tempel zugelassen sind und Gottesdienste nur im privaten Rahmen gefeiert werden dürfen, gibt es in den VAE und in anderen Golfstaaten Kirchen und Tempel. Wir Katholiken haben gegenwärtig in den VAE neun Pfarreien.

Wie sieht es in den anderen Golfstaaten konkret aus?
Saudi-Arabien habe ich bereits erwähnt. Oman verfolgt eine ähnliche Politik wie die VAE. Es ist zu beachten, dass der ibaditische Islam2 in Oman nicht identisch ist mit dem Islam in den anderen Ländern. Oman schlug unter Sultan Qaboos (*1941) einen Weg ein, der nebst der Pflege der omanischen Kultur auch Toleranz gegenüber anderen übt. Jemen, das seit Jahren unter einem grausamen Bürgerkrieg mit ausländischer Intervention leidet, ist wiederum ein Sonderfall. Dort gibt es seit Generationen jemenitische Christen. Unter dem sozialen Druck der musli- mischen Mehrheit drohen sie aber auszusterben. Die Schwestern von Mutter Teresa wirken trotz Krieg weiterhin im Jemen und werden von den Einheimischen sehr geachtet. Sie haben ihr Zeugnis mit dem Martyrium von insgesamt sieben Schwestern besiegelt (1998 und 2016).

In den VAE leben rund 900'000 Katholiken. Die St.-Josephs-Kathedrale, Bischofssitz des Apostolischen Vikariats, zählt alleine rund 100'000 Gemeindemitglieder.

Welches sind die grössten pastoralen Herausforderungen einer Migrantenkirche unterschiedlicher Nationalitäten?
Nebst der Erhaltung und Vertiefung des Glaubens besteht die grösste pastorale Herausforderung darin, die multinationale, multikulturelle und multirituelle Kirche als eine zusammenzuhalten. Das ist nicht immer leicht, weil der Sog der eigenen Gruppe oder Ethnie oft stärker ist als das Zugehörigkeitsgefühl zur vielfarbigen Pfarrei. Es geht auch darum, die unterschiedlichen kulturellen Sensibilitäten kompatibel zu machen. Das zeigt sich oft nur schon in der Weise, wie sich die Gläubigen kleiden. Auch der Frömmigkeitsstil variiert unter den verschiedenen Gruppierungen. Dass es bei der Vielfalt von Riten und Kulturen zu Interessenkonflikten und manchmal auch zu Animositäten kommt, ist angesichts der Platznot und der unterschiedlichen Erwartungen verständlich. Konfliktmanagement gehört daher zur regelmässigen Aufgabe der Pfarrer und des Bischofs.

Abgesehen von der Internationalität: Was zeichnet die Gemeinden vor Ort aus?
Ein wichtiger Aspekt ist die gegenseitige Sorge. Junge Menschen gehen in die Labour Camps und bestärken dort ihre Altersgenossen. Mitglieder von Gebetsgruppen besuchen Gefangene, wo das möglich ist, und helfen anderen, die finanziell in Not geraten sind. Das alles ist getragen von einem starken Glaubensengagement.

Was trägt zu einer lebendigen und wachsenden Gemeinde bei?
Unsere Leute sind im Allgemeinen religiös sozialisiert. Die Situation der Migration motiviert die Gläubigen, im Glauben vertieft Wurzeln zu schlagen. Das muslimische Umfeld, für das regelmässiges Beten zur täglichen Kultur gehört, ist dabei auch für uns Christen Hilfe und Anstoss zugleich. Für viele sind Kirche und Pfarrei Orte der Begegnung und des Friedens und bedeuten für unsere Leute auch eine neue Heimat. Wer entwurzelt ist, fasst in der Glaubensgemeinschaft oft leichter Fuss, als wer nur durch eine abbröckelnde Tradition dazu angehalten wird. Vor allem ist das Engagement der Laien in den verschiedenen Lebensbereichen unserer Pfarreien ein Motor für die Lebendigkeit der Gemeinden.

Ende Oktober 2018 fand in Ras al-Khaimah (VAE) eine katholische Jugendkonferenz statt. Die Teilnehmer kamen auch aus Oman, Kuwait, Bahrain und Saudi-Arabien.

Welches waren die wichtigsten Ergebnisse und Höhepunkte der Konferenz?
Diese Konferenz glich in etwa einem regionalen Weltjugendtag. Höhepunkte waren nebst einigen herausragenden Impulsen von renommierten Personen vor allem die jugendgemässe Musik und die Gesänge, die Gespräche in Gruppen und die würdig gefeierte Liturgie. Für viele war der unkomplizierte Kontakt mit den anwesenden Bischöfen, Priestern und Ordensleuten wichtig. Wie nachhaltig solche Konferenzen sind, hängt jedoch vor allem davon ab, ob und wie nachher in den einzelnen Pfarreien der Ball des jugendlichen Enthusiasmus aufgenommen wird.

Wie sehen die (beruflichen) Zukunftsperspektiven für junge Christen der Zweitgeneration christlicher Migranten aus?
Für die meisten jungen Christen liegt die berufliche Perspektive in einem anderen Land. Es ist aber auch möglich, sich hier eine Zukunft aufzubauen, die allerdings immer unter dem Vorbehalt der zeitlich begrenzten Aufenthaltsbewilligung steht. Während früher die jungen Leute nach der normalen Grundausbildung zum weiteren Studium in ihr Heimatland zogen, kommt es nun immer häufiger vor, dass sie hiesige Universitäten besuchen. Der Traum, an einem britischen oder amerikanischen College zu studieren, scheitert meist an den Finanzen.

Sie leben seit 2004 in den VAE. Welche Früchte ernten Sie aus der Begegnung mit dem Islam, der arabischen Kultur und den Migranten?
Ich wurde in diesen 15 Jahren meines Dienstes als Bischof in Arabien bescheidener und lernte, vom hohen Ross europäischer Besserwisserei herabzusteigen. Dieser Schritt brachte mir persönlich viel. Ich lese die Heilige Schrift heute anders. Das geografische und geschichtliche Umfeld ist näher bei der biblischen Welt und eröffnet neue Zugänge zum Wort Gottes. Exodus und Exil sind mir zur existenziellen Deutungshilfe für unsere Situation als Migranten geworden. Mit anderen Worten: Aus einem Glauben mit Treten an Ort ist ein Glaube unterwegs und mit anderen geworden.

Interview: Maria Hässig

1 Franziskus nahm Anfang Februar an der interreligiösen Konferenz «Geschwisterlichkeit unter den Menschen» teil, zu der ihn der Kronprinz von Abu Dhabi, Scheich Mohammed bin Zayed Al Nahyan, einlud. Hier unterzeichneten Papst Franziskus und Ahmad al-Tayyeb, Professor an der al-Azhar-Universität und Grossimam der al-Azhar-Moschee, das «Dokument über die Geschwisterlichkeit unter den Menschen für den Weltfrieden und das Zusammenleben». Es ist ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen Christentum und Islam. Der erste Besuch eines Papstes auf der Arabischen Halbinsel fiel in das Jahr, in dem der 800. Jahrestag des Treffens zwischen Franz von Assisi und dem Sultan Malik Al-Kamil in Ägypten begangen wird. Die VAE erklärten das Jahr 2019 zum Jahr der Toleranz. Toleranz und eine Willkommenskultur liegen dem Gründungsgedanken der VAE zugrunde. Die Einladung des Papstes ist in diesem Rahmen als starkes Zeichen zu werten.

2 Der ibaditische Islam ist v. a. in Oman anzutreffen. Die Ibaditen bilden eine kleine Minderheit (2 Mio.) innerhalb des Islams. Sie folgen einer eigenen Rechtsschule und sind weder dem Sunnitentum noch der Schia zuzurechnen.


Interviewpartner: Bischof Paul Hinder

Bischof Paul Hinder OFMCap (Jg. 1942) ist als Apostolischer Vikar zuständig für das Apostolische Vikariat Südarabien mit den Staaten Vereinigte Arabische Emirate, Oman und Jemen.

 

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