Ich drücke «Das Meeting verlassen» und strecke mich. An drei Tagen hintereinander hatten wir per Zoom ein Treffen: Maurice und Béatrice im Benin, Christine in Ägypten, Nassima und Ouhaïba in Algerien, Anne in Marokko, Micheline und Nynon in Haiti, Mario und Normand in Spanien, Andrea und ich in der Schweiz, allesamt Kolleginnen und Kollegen, die sich an sehr unterschiedlichen Orten für das Wachstum von Personen einsetzen. Niemand von uns musste lange reisen und viel Geld ausgeben, jede und jeder unterbrach den Arbeitsalltag nur für jeweils drei Stunden. Und doch machten wir miteinander eine interessante Reise und vertieften unser professionelles Know-how und unsere Freundschaft. Ich liebe das Internet! Auch dass ich mit meiner Freundin Elisabeth in Amerika nicht mehr Luftpostbriefe schreiben muss, die zwei Wochen dauern, sondern mühelos und in Echtzeit per Mail, Skype oder Facebook Mitteilungen austauschen und einen Artikel teilen kann, über den wir gerade noch sprachen, finde ich cool. Wenn ich bedenke, dass ich die ersten 30 Jahre meines Lebens nur das schnurgebundene Festnetztelefon und Briefe als Kommunikationskanäle in die nicht unmittelbare Umgebung kannte! Manchmal reibe ich mir die Augen und staune, was Menschen alles entdecken können. Wow!
Und doch sind es nicht zuletzt diese Erfindungen, die bei uns in der Psychiatrie die Abteilung «Verhaltenssüchte» füllen. Da sind Menschen, die nicht mehr loskommen von ihrem Handy oder PC, die süchtig nach Inhalten oder Spielen sind, die auf Likes warten und mit Wildfremden chatten. Da sind Menschen, die von diesen Angeboten so besetzt sind, dass sie in der analogen Welt nicht mehr zurechtkommen, dass sie Schule, Studium, Arbeit vernachlässigen oder ganz schwänzen, weil sie dermassen angezogen sind, dass sie sich nicht abwenden können, wie sie meinen. Nicht wenige Eltern, Lehrerinnen und Lehrer klagen: So weit ist die Psychiatrie da nicht vom Alltag in unseren Schulen und Familien entfernt. Und seien wir ehrlich: Auch viele von uns kennen diese Anziehung, das manchmal unbegrenzte Herumsurfen – aus Interesse, Neugier oder zur Entspannung. Als die Zeit im Internet noch im Minutentakt abgerechnet wurde, fiel es den meisten noch leichter, klare Grenzen zu setzen. Aber heute? «Kostet ja nichts», unterschiebt der Pauschalpreis. Doch weit gefehlt. Natürlich kostet es: Zeit!
Der Schlüssel zur Freiheit ist eine andere, grössere Anziehung: durch Menschen, Aufgaben, Interessen, die auf einer tieferen Ebene faszinieren, uns ansprechen und unsere Zeit brauchen. Viele Menschen kennen diese Anziehung – zumindest in Ansätzen. Und jede Person kann diese grössere Anziehung in sich entdecken lernen. Meine optimistische Erwartung: Die Entdeckung dieser Anziehung wird in den Fokus geraten und den technischen Entdeckungen folgen. Und wir werden als Einzelne und als Gesellschaft durch sie die Erfahrung einer neuen Dimension von Fülle, Sinn und Wirksamkeit machen.
Gabriele Kieser*