Die vorbehaltlose Empfehlung der hier angezeigten Autobiografie1 ist zugleich eine Warnung: Wer diese aufmerksam liest, kommt nicht ungeschoren davon! Er/sie muss sich mit dem eigenen Leben konfrontieren, aber als Katholik in der Mitte (oder am Rand) seiner Kirche auch mit dem konkreten Leben dieser Kirche und ihrer Vertreter, vom Papst bis zum letzten (Un-)Gläubigen. Die lange und spannende, tiefschürfende Lebensgeschichte des Priesters, Soziologen, Philosophen, Psychologen Tomáš Halík aus Tschechien ergänzt die bisher auf Deutsch erschienenen Bücher und rundet sie ab.2
Die politisch-soziale Umgebung
Den meisten Lesern wird der Zerfall der Tschechoslowakei in Tschechien und Slowakei in Erinnerung sein, manchen auch der Versuch eines «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» unter Alexander Dubcek, von den Sowjets und ihren Verbündeten 1968 grausam unterdrückt (wie schon 1956 in Ungarn), sodann die Zeit unter nationalsozialistischer Tyrannei, und dies nach wenigen Jahren Unabhängigkeit, in denen die habsburgische Monarchie (bis 1918 an der Macht) vielfältig noch nachwirkte. 1948, als die Kommunisten sich an die Macht putschten (und Halík auf die Welt kam), bestellte der neue Präsident Gottwald bei Kardinal Beran ein Te Deum im Veits-Dom; er steckte ihn (einen ehemaligen Häftling des Konzentrationslagers Dachau) ein Jahr später mit vielen anderen ins Gefängnis. Von da an tauchte die Kirche in den Untergrund ab, oben konnte grad noch etwas Gottesdienst gefeiert werden. Der junge Tomáš war zwar noch gewohnheitsmässig getauft worden, sein Vater war aber schon lang aus der Kirche ausgetreten, die beiden Paten gingen seit ihrer Gymnasialzeit nicht mehr zur Kirche, die Mutter stand ihr fern. Reisen ins Ausland wurden nur wenigen Leuten ausnahmsweise gestattet, die Literatur war zensiert, alle Information in Zeitungen und Radio sehr selektiv. Tomáš Halík hatte den Vorteil, in einer gebildeten Umgebung aufzuwachsen, in der sich die weit verbreitete Haltung tschechischer Menschen abbildete: «Glauben an Humanität, an eine moralische Ordnung, an wissenschaftlichen Fortschritt und an Demokratie» (S. 9). Er fand zu Hause genügend Bücher oder konnte sich diese verschaffen, um sich ein erstaunliches Wissen anzueignen, das ihn unmerklich zum katholischen Glauben führte, dem er sich mit 18 Jahren ganz bewusst wieder zuwandte (er nannte es «Bekehrung»). Er sah seinen Weg als Laie im Untergrund, der sich in einem breit gefächerten Studium die Grundlagen verschaffte, um an wichtigen Stellen beruflich tätig zu sein. Die Gesellschaft hatte sich schon früh sehr distanziert zum vererbten österreichisch-kaiserlichen Triumphkatholizismus verhalten, die 40 Jahre Kommunismus machten dann mit der DDR daraus eines der am stärksten «atheisierten» Länder.
Der eigene Weg
Tomáš Halík fand Freunde, gerade auch unter Priestern, die es verstanden, ein lebendiges Glaubensleben abseits von Klischees, Vorurteilen und Verurteilungen zu begründen und zu stärken, und langsam reifte die Überzeugung, zum Priester berufen zu sein. Mit 30 Jahren wurde er in der DDR (einem Land, wohin er reisen durfte!) im Geheimen zum Priester geweiht, was aber fast niemandem bekannt werden durfte. Es gab eine vom Staat gelenkte Priesterschaft, die «Friedenspriester », eine ganze Anzahl, die sich sonst stillhielten, eine gut organisierte «Untergrundkirche», die Notlösungen treffen musste mit geheimen Bischofs-, Priester- (und Priesterinnen!-)Weihen. Die Mehrzahl war von einem Kontakt mit der übrigen Welt und erst recht mit der katholischen Kirche im Ganzen abgeschnitten, sie nahmen kaum das Konzil von 1962 bis 1965 wahr, sie verfolgten nicht die Entwicklung des Geisteslebens und gerieten darum 1989 unversehens nicht ins weite Feld der Freiheit, sondern ins «Labyrinth der Freiheit», in dem sie sich kaum mehr zurechtfanden. Ein paar leuchtende Figuren wie der Fensterputzer und spätere Erzbischof-Kardinal Vlk konnten die vielen ungenügend vorbereiteten andern Figuren im Bischofs- und Priesteramt nicht genügend ausbalancieren. Und man wird sagen dürfen, dass der Vatikan weitgehend die Situation falsch einschätzte und falsch handelte. Schon «nach dem Fall der österreichischen Monarchie verlangte eine Delegation tschechischer Katholiken, die auch einen bedeutenden Teil des tschechischen katholischen Klerus repräsentierte, in Rom Reformen: die Demokratisierung der Kirche, die Einführung der Nationalsprache in der Liturgie, die Rehabilitation von Jan Hus und die Umwandlung des Zölibats in ein freiwilliges Gelübde. Die Antwort aus Rom war bestimmt und bestand aus einem einzigen Wort: Numquam! Niemals!» (S. 10). Die Art, wie nach 1989 die «Untergrundkirche» behandelt wurde, war nicht gescheiter.
In dieser Situation ging Tomáš Halík seinen eigenen Weg, nicht im Aufruhr, aber konsequent. Er wurde zwar auf peinliche Weise aus der theologischen Fakultät hinausgeekelt (kein einziger Priester dieser Fakultät und kein einziger Bischof stand zu ihm), wo er mithelfen wollte, die rückständige Priester-Ausbildung zu heben; er versuchte, Ausbildungskurse für neu ernannte Bischöfe in Menschenführung, Verwaltung usw. zu veranstalten, aber das Interesse und der Erfolg waren gering. Seine psychotherapeutische Ausbildung erlaubte ihm, nicht nur seine Kollegen gut einzustufen, sondern auch bei sich selbst Einkehr zu halten, worüber er sehr offen berichtet – er kommt sich gar nicht ausserordentlich vor, obwohl er das natürlich in mancherlei Hinsicht ist. Er berichtet über die «Nacht der Seele», die auch ihn überfallen kann, oft über längere Zeit, aber auch über Geschehnisse, denen man den übernatürlichen Charakter nicht absprechen kann, und das alles in einer erstaunlichen Offenheit nicht nur zu den andern christlichen Kirchen, sondern zu allen Religionen. Er hat seit 1989 die ganze Welt bereist, Vorträge und Vorlesungen gehalten, Begegnungen mit wichtigen Persönlichkeiten aus Kirche, Kultur, Politik gehabt. Er war auch in der Schweiz und stieg in den Ranft hinunter; er erlebte die Haas-Affäre in ihrem Höhepunkt, was ihm ein seltsames Bild der schweizerischen Kirche bot. Er war befreundet mit Václav Havel und stand eine Zeit lang ernsthaft als Kandidat für das Präsidentenamt im Gespräch. Aber die Aussicht, dann mit abgefeimten Politikern zusammenarbeiten zu müssen, verleidete ihm die Idee. Er vermisst zwar an solchen Stellen oft Personen mit Charakter, Kultur, Wissen – aber als Priester sah er für sich einen andern Weg. Er ist eben auch ganz konkret in der Seelsorge tätig, v. a. für Studenten und Akademiker (nach dem Motto: Bis 45 sollst du dich an Alte halten, von da an jedoch an Junge!).
Die geistige Neugier
Was schon den Gymnasiasten auszeichnete, blieb ihm weiterhin wegleitend: die Neugier, sich Kenntnisse aus vielen Bereichen anzueignen. Er las früh schon Dostojewski und Nietzsche, später traf er sich im Untergund mit Theologen wie Ratzinger, Schönborn, Rahner, Küng, mit herausragenden Figuren wie Kardinal König, Frère Roger, dem Dalai Lama, hatte viele Gespräche mit Johannes Paul II. (mit dem er sich in einem «tschechisch-polnischen Misch-Esperanto» unterhielt), er kennt sich bestens aus in englischer und deutscher Sprache, andere sind ihm nicht so geläufig, dass er in ihnen denken könnte. Er lässt sich von Enttäuschungen nicht unterkriegen, verurteilt auch andere Menschen nicht leichtfertig, er hat sehr viel Verständnis für Schwächen und Schwierigkeiten, auch im Beichtstuhl. Nahe steht ihm der Mystiker Meister Eckhart. Das letzte Kapitel ist eine Mut machende Meditation über den Tod, den er nicht mit Leerformeln beschwatzt, sondern als Geheimnis bestehen lässt.