Im Kindesalter sind unsere Vorbilder meist unsere Eltern und älteren Geschwister, ab der Pubertät dann andere Menschen wie Stars oder erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler.
Das Vorbild überholt
Ich wollte schon als Kind immer so sein wie jemand, der das macht, was ich auch gerne tun würde: So gut Gitarre spielen wie «Hosi», mein Kollege aus der Jubla, konnte niemand. Als ich dann mit 14 Jahren eine Gitarre hatte und seine bekanntesten Songs spielte, dachte ich: «Na ja, Hosi ist ja auch nicht vom Himmel gefallen.» Aber sein Entertainment war erstklassig.
Es gab neben Hosi viele Menschen, die für mich anbetungswürdig waren, unter anderem mein Grossvater, der Schmetterlinge und allerlei Insekten in die «Tötungsdose» (ein Konfiglas mit äthergetränktem Wattebausch) steckte und für die Ewigkeit präparierte. Wenn ich davon erzähle, schütteln vermutlich gewisse Menschen den Kopf. Im Alter wurde er altersmild und blieb dadurch für mich noch mehr ein Vorbild mit seiner Gelassenheit, aber auch mit seinen unkonventionellen Wegen und mit seiner noch immer lustvollen Kreativität.
Mein Aussehen veränderte sich, nachdem ich einige voreilige Vorbildverbindungen wieder gekappt hatte. Mein neues Outfit: lange Haare, ein Hemd, das ich über der Hose trug, und sehr enge Jeans. In dieser Zeit legte ich alle Artikel über den besten Gitarristen der Welt in einem Ordner ab: David Gilmour von Pink Floyd. Und ich schwor, mich niemals von Pink Floyd zu trennen. Doch es kam anders. Die LPs von Pink Floyd verkaufte ich irgendwann im Oldie-Shop in Bern.
Hosis Fähigkeit zur Show hatte ich für mich weiter perfektioniert. Ich wurde so richtig gut in «Verbrauchslyrik» und Hosi war in meiner Erinnerung nur noch ein «Höseler». «Verbrauchslyrik» meint, aus dem Nichts heraus über ein paar Gitarrenriffs eine Reihe sich mehr oder weniger reimenden Songzeilen mit einem Refrain in die Welt zu schmeissen. Und siehe da, ich hatte plötzlich eine Anzahl Fans – und war ein Vorbild! Dabei wurde ich wohl besser, aber nicht authentischer, denn ich wollte mich ja auch abheben vom Rest der Welt. Doch «Verbrauchslyrik» können die Rapper viel besser; sie haben mich schon früh rechts und links überholt und mich im musikalischen Strassengraben liegen gelassen.
Dem Vorbild nacheifern
Weil die Gotte oder die Grossmutter so toll lackierte Nägel hatte und funkelnden Schmuck trug, hätte man solche Dinge auch gerne mal getragen. Als man das Geburtstagsgeschenk öffnete und mit leeren Augen die Barbie in Empfang nahm, die zwar funkelnd und lackiert und geschmückt war, fühlte man sich in seinem Sein nicht verstanden. Und später ging es eventuell weiter mit einem neuen vollen Programm: Eindruck machen, Eindruck schinden, ankommen da und dort und immer wieder bemüht, perfekt geschminkt zum Krafttraining zu gehen oder Vollgas zu geben, um die Fettschicht über dem Sixpack wegzubekommen. Doch wenn trotz allem auch noch die gewünschten Bizepse und Trizepse ausblieben, folgte die Erkenntnis, dass man aufs falsche Pferd bzw. Vorbild gesetzt hatte.
Reflexion
Solche Geschichten sind möglich. Eine Biografie kann nur in der Nachschau und immer nur von derjenigen Person, welche die Geschichte erlebt hat, als eine gute oder eine echt leide Geschichte bewertet werden. Ebenso kann erst im Nachgang differenziert werden, ob die Vorbilder fördernd oder einschränkend waren. Fördernd waren sie, wenn ich sie in einem Danach in guter Erinnerung habe und wenn das Gefühl des Gehalten-Seins bleibt.
Vorbilder können Schaden anrichten, wenn sie andere benutzen und das Gegenüber als Mensch nicht respektieren, sei es durch persönliche Interessen oder «kranke» Absichten. Meine Vorbilder waren glücklicherweise alle immer harmlos und die meisten sogar gut für mich und die Entwicklung meiner Persönlichkeit. Doch ein Vorbild bewährt sich immer nur im Bereich einer biografischen Arbeit, sozusagen im Nachgang und in der Reflexion der eigenen Lebensgeschichte – dann wird das Vorbild zum Nachbild.
Vorbilder werden problematisch, wenn sie nichts mehr mit unserer realen Welt zu tun haben: Davon sind Youtuber wie Heilige nicht gefeit. Vorbilder zu haben, hat immer mit Verehrung und Enttäuschung zu tun, mit Nachfolgen und Abfallen. Damit ist das Thema schwach umgrenzt, das dieser Artikel nicht abschliessend beantworten kann; kein Artikel kann es, wie auch kein Vorbild ewig erfüllen kann. Sonst würden wir uns uns selbst verweigern und nicht glauben, dass die Welt im Fluss ist, dass wir ein kleiner Teil darin sind und dass in ihr Beziehung wachsen kann und Gott wird.
Vorbilder haben mit Sehnsucht zu tun
Wenn wir Vorbilder suchen oder haben, hat dies immer mit einer Sehnsucht zu tun. Mit der Sehnsucht, die auch unrealistisch in uns wohnt und Bilder jeder Art generiert. Menschen-, Vor-, Gottes-, Weltbilder sind deshalb wunderbar und entwicklungsfähig und manchmal auch revisionsbedürftig. Es ist, wie wenn man eine neue Wohnung in einer noch fast unbekannten Landschaft bezieht und noch ein neues Möbel braucht: so wählen wir aus. Damit ist gesagt: Je mehr sich in unser Leben verändert (durch Krisen, Lebenswandel, neue Philosophie, Religion usw.), desto mehr suchen wir neue Identifikationsräume und Personen. Die Aussenbilder kommunizieren mit den Innenbildern.
Warum wir heute noch Vorbilder brauchen
Wir haben keine einfachen Antworten mehr auf scheinbar einfache religiöse Fragen. Jesus nachzufolgen, ist zu einem sehr komplexen Anspruch mutiert. Was heisst das nun? Welche Haltung ist erstrebenswert? Für mich gibt es nur eine Antwort: Lasst uns über unsere Sehnsüchte und Hoffnungen austauschen, uns einander von unserem Leid und unseren Enttäuschungen erzählen – das wäre vorbildhaft. Wir Menschen wollen zutiefst verstanden werden und fühlen uns dann wohl, wenn unsere Gedanken und Wünsche ankommen. Deshalb ist es immer gut, wenn uns jemand versteht und uns in den Arm nimmt. Das Vorbild zeigt und lebt vor, denkt und fühlt mit und gibt mir den Pinsel für mein Leben in die Hand; damit ich mich mit all diesen Dingen des Lebens zeichnen kann, welche heissen: scheitern, sterben, versöhnen, aufstehen.
Ausblick
Mit Vorbildern wird Lebensgestaltung einfacher. Da sind viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Philosophien und Religionen, mit unterschiedlichen Lebenshaltungen oder sexuellen Orientierungen. Vorbild und Nachfolge geht heute nur noch mit einer absoluten Offenheit und Interesse an Lebensentwürfen, die so anders sein können, als wir sie uns vorstellen.
Wir hatten Vorbilder in Vater und Mutter, Onkel und Tante, hatten sie in Heiligen mit diesen faszinierenden Geschichten, wir haben sie exemplarisch in den Evangelien. Wir hatten sie damals in den Märchen, den Geschichten von Astrid Lindgren usw. Wir haben sie heute in den Musikerinnen und Musikern und den Youtube-Stars – von Schminktipps bis Lockdown-Anleitungen. Vorbilder sind Orientierungspunkte in unserem Leben, sie prägen uns und bringen uns in einen Dialog und in eine Differenzierung mit Werten, Menschen- und Weltbildern.
Wer hat gestern geprägt, wer ist jetzt da, wer wird morgen kommen? Die Antwort darauf liegt in jeder einzelnen Geschichte. Damit ist man auch bereit, am eigenen Evangelium zu schreiben.
Patrik Böhler