An allen Wächtern vorüber

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Silja Walter hat mit ihren Texten viel zu einer neuen Sprache in der Kirche beigetragen. Am 23. April hätte sie ihren 100. Geburtstag feiern können.

«Vielleicht hält Gott sich einige Dichter […], damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.» Und vielleicht – so liesse sich der Gedanke von Kurt Marti in «Zärtlichkeit und Schmerz» erweitern – auch einige Dichterinnen.

Neue Sprache und Bilder

Silja Walter* (1919–2011) mag zu diesen Dichterinnen gehören. In ihrem umfangreichen Werk, das aus Gedichten, Hymnen, Prosatexten, Meditationen und spirituellem Theater besteht, finden sich Texte, die von jener heiligen Unberechenbarkeit zeugen und sich unheiliger Berechenbarkeit entziehen. Wer die Benediktinerin, die seit 1948 in Kloster Fahr am Rand von Zürich lebte, kannte, konnte fasziniert sein von ihrer leidenschaftlichen, glühenden Gottrede mit dem lyrischen Klang und der authentischen, begeisternden Stimme. Unermüdlich formte sie in Sprache, wovon sie überzeugt war, dass Gott am Kommen ist und unsere Gegenwart verändert:

Das unsichtbar schimmernde
Jesusjetzt
hat sich in meine
ausgebrannte
Herzlampe
gesetzt
Jetzt liegen alle
Gestern
und Morgen der Erde
sonnenklar ausgebreitet
vor meinem Gesicht
Das Weltall
steht in der Küche1

Kann man zu Gott und über Gott, kann man über den Absoluten eigentlich adäquat reden? «Nein», erklärte Silja Walter in einem Gespräch, «das kann man eben nicht. Ich kann das Absolute nicht beschreiben. Und trotzdem. Trotzdem bemühe ich mich immer wieder, einen Ausdruck dafür zu finden. Nicht Begriffe, nein, vor allem nicht alte Begriffe. Lieber nicht von Gott reden als in der alten, verdreschten, verbrauchten Sprache. Ich bemühe mich vielmehr um das Finden von neuen Bildern, Symbolen. Wobei dieses Bemühen nicht eigentlich ein voll bewusstes, gezieltes ist. Die Bilder, die kommen wie von selber.»2

Neue Bilder von Gott von selber kommen zu sehen, das kann prophetisches Sehen sein, es kann jedoch auch Unsicherheit und Ängste auslösen, die da und dort bremsend wirken. Denn die «alte, verdreschte Sprache» galt doch als sicheres, bewährtes, gewohntes Gefäss für Ewiges in der Zeit, das sich von Generation zu Generation tradierte und bewahrt werden wollte. Silja Walter fand sich in den siebziger Jahren mitten in das Ringen um eine neue Sprache im Raum der Kirche im Reden zu Gott hineingestellt. Die Erarbeitung einer muttersprachlichen Liturgie war eine grosse Herausforderung, insbesondere im Bereich hymnischer Texte. Als Mitglied der poetischen Kommission sollte Silja Walter alte lateinische Hymnen in deutsche poetische Fassungen übertragen. Es zeigte sich jedoch, dass Sinntreue und Formtreue nur mit Abweichungen zu wahren waren und eine Übertragung des Hymnus, die sich in Vokabular und Grammatik, Reim und Rhythmus dem Original verpflichtet weiss, den Resonanzkörper der Muttersprache nicht so leicht zum Schwingen brachte. So tat es Silja Walter der Braut im Hohelied gleich und lief «an allen Wächtern vorüber» – auch an den Wächtern des alten lateinischen Hymnars –, freie Hymnen in einer neuen Sprache schreibend.

Die Nacht läuft der Mitte zu;
spring,
WORT,
Geliebter,
Tau in den Haaren,
über die honigduftenden Berge
in deine Stadt.
Ihn suche ich,
den meine Seele liebt.
Aufstehn will ich,
denn er kommt
in seinen Garten.

Verbrannt ist die Welt, doch
komm,
WORT
des Vaters,
schön ist sie dennoch,
sucht dich an allen Wächtern vorüber,
von Nacht zu Nacht.
Ihn suche ich,
den meine Seele liebt.
Aufstehn will ich,
denn er kommt
in seinen Garten.3

Im Suchen nach neuer Sprache im nachkonziliaren Ringen zeigte Silja Walter, dass es möglich ist, in neuer Sprache und dennoch im Geist der Tradition zu Gott zu reden.

Um die gleiche Zeit etwa schrieb Silja Walter den sprachschöpferischen Protestgedichtezyklus «Keine Messgebete», der zu ihren bilderreichsten Texten gehört. Es sind Beziehungsgedichte, in denen sie Gott ganz eigene Namen gibt: «mein Dunkelgänger», «mein mich Packender», «mein ewiger Türsteher», «lichtflüssiges Gottesnichts». Dabei arbeitet sie mit Überraschung und Provokation. Sie setzt Wörter zusammen, die nicht zusammengehen. Der Zusammenprall von Gegensätzen beispielsweise wie «tot» und «tosend» kann die Ambivalenz der Gotteserkenntnis und des Redens von Gott so zu Wort bringen, dass das Gottesbild sich der unheiligen Berechenbarkeit entzieht und eine dynamische Offenheit behält: «toter tosender toter Gott».

Die Bilder für das Reden über und zu Gott können aus der natürlichen Erfahrungswelt des Menschen stammen. Zusammengefügt ergeben einzelne Bilder ein neues Bild. Silja Walter wählt z. B. «Ozean» als Bild für Gott. Das Bild eignet sich, um die Grösse, Weite und Erhabenheit Gottes auszudrücken. Der Mensch kann in den Ozean eintauchen. Statt «Ozean» oder «Ozean Licht» kann umgekehrt auch das «dreifarbene Meer» hereinfluten in die Wirklichkeit des Menschen. Daneben stellt die Dichterin das Bild vom «Zelt» als Aussage für den Menschen. Es kann wackelig, «windschief» sein, zerbrechlich, vergänglich. In Beziehung gebracht wird aus beiden Bildern etwas Neues, ein Beziehungsbild:

toter tosender
toter Gott
wie ist es denn
mit dir
und mit mir
Ozean
in meinem wind-
schiefen Zelt4

Für das Reden zu Gott ist freier, nicht besetzter Raum nötig. Im Gedichtezyklus «Keine Messgebete» verwirft die gottsuchende Dichterin das Gerede des Betens zu Gott, das ihren Raum besetzt. Sie wählt das Bild des «Käfigs», lässt versehentlich die «Käfigtüre» offenstehen, und obwohl – oder: gerade weil – ihr die «Anbetungs- gebete» alle entweichen, bleibt sie in ihrem Gebet, für das sie ihr Gesicht in Gott gelegt hat:

Anbeten
nur noch anbeten
nichts mehr sonst
meine Anbetungsgebete
sind mir aber alle
entwichen
Ich liess aus Versehen
den Käfig
offen stehn
da waren sie weg
und flatterten
schon
übers Dach
Bloss einen Augenblick
legte ich mein Gesicht
in dich
ich versichere dir
einen Augenblick bloss
Sie sangen noch
überm Haus
und beteten etwas
zurück
dann waren sie weg
Was willst du
geschehn ist geschehn
vielleicht fängt sie einer
im Netz
überm Fluss
lass sie
jetzt stört uns doch endlich
nichts mehr
von Ewigkeit
zu Ewigkeit
Amen5

Vielleicht ist es eine Stärke der Dichtung, den Käfig ein wenig offen stehen zu lassen und diese naive Unmittelbarkeit des Redens von Gott in neuen Bildern zu wagen. Silja Walter sei Dank für ihre schöpferische Sprachkraft, die aus ihrer innigen Glaubenstiefe hervorbrach.

Ulrike Wolitz

 

1 Silja-Walter-Gesamtausgabe Bd. 8, Wolitz, Ulrike (Hg.), Freiburg i. Ue. 2005, 94.

2 Silja-Walter-Gesamtausgabe Bd. 6, Wolitz, Ulrike (Hg.), Freiburg i. Ue. 2001, 193 f.

3 Silja Walter Gesamtausgabe Bd. 10, Wolitz, Ulrike (Hg.), Freiburg i. Ue. 2005, 474 f.

4 Silja Walter Gesamtausgabe Bd. 8, 57 f.

5 Ebd. 68 f.

* Silja Walter wurde 1919 in Rickenbach bei Olten geboren. Sie studierte Literatur an der Universität Freiburg i. Ue. 1948 trat sie ins Benediktinerinnen-Kloster Fahr bei Zürich ein, wo bis zu ihrem Tod am 31. Januar 2011 lebte. Für ihr schriftstellerisches Wirken erhielt sie zahlreiche Ehrungen im Literatur- und Kulturbetrieb, unter anderem den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Buchempfehlung: «Dich kommen sehen und singen. Erinnerungen an Silja Walter». Von Ulrike Wolitz. Einsiedeln 2019. ISBN 978-3-7228-0905-2, CHF 30.90. www.herder.de


Ulrike Wolitz

Ulrike Wolitz (Jg. 1961) hat in Theologie über Silja Walter promoviert und ist in Walenstadt SG als Seelsorgerin tätig. Sie betreut als redaktionelle Leiterin die Silja-Walter-Gesamtausgabe.