Ist Gott ein anderes Wort für Naturgesetze oder für Allmachtsfantasien oder für Trost? Oder deutet dieses Wort auf eine Lücke hin, einen Platzhalter, eine Unbekannte? «It doesn’t matter», singen «Christine and the Queens» bedrängt von dunklen Gedanken: «It doesn't matter, does it. If I know any exit. If I believe in God and if God does exist. If I believe in God and if God does exist.»1 Hilft der Glaube an Gott, die bösen Geister zu verscheuchen? Oder bleibt bei aller Ungewissheit, dass ich selbst an meiner Hoffnung festhalte und für mein Recht eintrete, wie Sophie Hunger in ihrem Song «Citylights Forever» meint? «And now if there is God. And if there is not. Still I find myself hoping and pleading a lot.»2
Gott ist zur Welterklärung überflüssig
Der im vergangenen Jahr verstorbene britische Astrophysiker Stephen Hawking (geb. 1942) ging in seinen postum erschienenen Brief «Answers to the Big Questions» auch auf die Gottesfrage ein: «Immer öfter beantwortet die Naturwissenschaft Fragen, die einst in die Zuständigkeit der Religion fielen. Die Religion war ein früher Versuch, Antworten auf die Fragen zu finden, die wir alle stellen: Warum sind wir hier, woher kommen wir? Vor langer Zeit lautete die fast immer gleiche Antwort: Die Götter haben alles geschaffen. Die Welt war ein furchteinflössender Ort, daher glaubten selbst so hartgesottene Kerle wie die Wikinger an übernatürliche Wesen, um sich Naturerscheinungen wie Gewitter, Stürme oder Sonnen- und Mondfinsternisse zu erklären. Heute liefert die Naturwissenschaft bessere und schlüssigere Antworten, aber es wird immer Menschen geben, die sich an die Religion klammern, weil sie Trost spendet und weil sie der Wissenschaft nicht trauen oder sie nicht verstehen [...] Jahrhundertelang glaubte man, behinderten Menschen wie mir sei von Gott ein Fluch auferlegt worden. Nun, ich halte es durchaus für möglich, dass ich irgendjemanden dort oben erzürnt habe, aber ich ziehe es doch vor zu denken, dass alles auch ganz anders erklärt werden kann, nämlich durch die Naturgesetze. Wenn Sie, wie ich, an die Wissenschaft glauben, gehen Sie auch davon aus, dass es bestimmte Gesetze gibt, die unter allen Umständen gelten [...] Wenn Sie wollen, können Sie die wissenschaftlichen Gesetze ‹Gott› nennen, aber das wäre dann kein persönlicher Gott, dem sie begegnen und Fragen stellen könnten.»3
Die in unseren Breiten gängige und kaum hinterfragte Erwartung, dass die naturwissenschaftliche Welterklärung eines Tages an die Stelle der Theologie treten würde, stammt aus dem 17. und 18. Jahrhundert (John Locke; David Hume). Sie ist davon überzeugt, dass sich alles, was der Fall ist, und alles, was dahinter steckt, auch ohne Verweis auf Gott erklären lässt, selbst die Religion, ja, dass Gott letztendlich zur Welterklärung überflüssig wird. Er mag dann noch zu seelsorglichen oder therapeutischen Zwecken als Trost- oder Resilienzfaktor nützlich und ansonsten eher historisch oder museal interessant sein. Wir wissen heute mindestens zweierlei: Gott lässt sich offensichtlich mit wissenschaftlichen Methoden nicht aus der Welt schaffen – und es genügt nicht, dies mit menschlicher Unvernunft oder Verbohrtheit zu erklären. Die Wissenschaft erzeugt mit jedem Wissen Nichtwissen – und es genügt nicht, dies mit menschlicher Fehlerhaftigkeit oder Heimtücke zu erklären.
Eine zwiespältige Liebe zu Gottes Wort
2004 veröffentlichte der Schweizer Philosoph Peter Bieri unter dem Autorennamen Pascal Mercier seinen später verfilmten Roman «Nachtzug nach Lissabon». Darin stösst der Leser auf eine bemerkenswerte Schülerrede über «Ehrfurcht und Abscheu vor Gottes Wort». Sie zeigt die Zweischneidigkeit des Gotteswortes auf: «Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt [...] Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Verwahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte [...] Ich verehre Gottes Wort, denn ich liebe seine poetische Kraft. Ich verabscheue Gottes Wort, denn ich hasse seine Grausamkeit. Die Liebe, sie ist eine schwierige Liebe, denn sie muss unablässig trennen zwischen der Leuchtkraft der Worte und der wortgewaltigen Unterjochung durch einen selbstgefälligen Gott. Der Hass, er ist ein schwieriger Hass, denn wie kann man sich erlauben, Worte zu hassen, die zur Melodie des Lebens in diesem Teil der Erde gehören? Worte, an denen wir von früh auf gelernt haben, was Ehrfurcht ist? Worte, die uns wie Leuchtfeuer waren, als wir zu spüren begannen, dass das sichtbare Leben nicht das ganze Leben sein kann? Worte, ohne die wir nicht wären, was wir sind? Aber vergessen wir nicht: Es sind Worte, die von Abraham verlangen, den eigenen Sohn zu schlachten wie ein Tier. Was machen wir mit unserer Wut, wenn wir das lesen?»4
Der hier beschriebene biografisch begründete Zwiespalt deutet darauf hin, wie nicht nur Äusserungen, die Gott im Mund führen, und Formen, in denen Gott zu Wort kommt, sondern auch Bilder, Töne, Räume, Gesten, Handlungen eine Macht besonderer Art ausüben. Sie nehmen höchste Autorität für sich in Anspruch. Man hat Kriege damit geführt, Seelen damit gefangen oder befreit und Trost damit gespendet – und tut dies bis heute. Ihre Gefährlichkeit zeigt sich in der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Raum der Kirche und ihres ordinierten Amtes. Was schützt vor den Gefahren des Gotteswortes – im doppelten Sinn von Gott als Wort und von Wort Gottes? Wie kann es retten?
Das Wort wird mächtig in der Resonanz
Eine Annäherung an diese Frage liegt im Verweis auf das Moment der Resonanz. Darin zeigt sich der eigenartige Zusammenhang von Ohnmacht und Macht. Das Wort ist etwas äusserst Fragiles. Denn wer spricht oder schreibt, hat nicht in der Hand, was daraus wird, ob es beachtet und wie es verstanden wird. Mit dieser Ohnmacht geht eine Macht einher, die das Wort in der Resonanz entfalten kann, die es findet, im Guten wie im Bösen: in der Kommunikation und in der Gesellschaft, in den Gefühlen und Gedanken, in den Medien und Organisationen, im Internet. Ausgerechnet jene riskante Macht sucht sich – nach dem Verständnis der drei abrahamitischen Religionsfamilien – das Gotteswort, um zur Welt zu kommen. Judentum, Christentum und Islam sind bekanntlich allerdings – sowohl untereinander als auch intern – unterschiedlicher Auffassung, was die Stellung des gesprochenen und des geschriebenen Wortes in der göttlichen Kommunikation betrifft. Dies wirft bis heute hermeneutische Fragen des Umgangs mit Aussagen der Heiligen Schrift auf, insbesondere auch bei umstrittenen Textpassagen.
Gottesgeburt im Hören und Entziffern
Das Zweite Vatikanische Konzil band die Schrift- auslegung an die jeweils gegenwärtige Lebenssituation, an «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art» (GS 1). Hier findet das Verstehen des Gotteswortes statt; hier entfaltet es seine Macht; dahinein ist es gestellt, in ein Verstehen, das jetzt Verhältnisse verändert, in Kooperation mit allen dafür zur Verfügung stehenden Kräften der Politik, des Rechts, der Kunst, der Wissenschaft usw. Es gilt, die «Zeichen der Zeit» zu interpretieren. Das Konzil nahm und empfahl in diesem Zusammenhang die Menschenwürde, wie sie die Artikel der UN-Menschenrechtscharta von 1948 definieren, zum Massstab.
In diesem Sinn wäre auch die biblische Bedeutung des Gotteswortes als eine Tat zu interpretieren, die sich an der Menschenwürde bemisst. Dabei führt kein Weg an deren prekärer Kommunikationslage vorbei. «Die rätselhafte Vorläufigkeit der göttlichen Sätze hält an. Sie kann nicht vermieden werden. Das ist die bleibende Situation der Sprache, in die wir versetzt sind [...] Es gibt keine Transformation in erschöpfende Information, dass [...] Gott sozusagen seine Wahrheit in einem Guss ins Hirn schüttet und fertig [...] Es geht um die Gottesgeburt im menschlichen Tun des Hörens und der Entzifferung.»5 Dieses Tun findet auf dem schwankenden Boden nicht nur der Sprache und der Schrift, sondern auch der jeweiligen Lebenssituation statt, insbesondere in Bedrängnis und Not, die nach Rettung schreien. Gott lässt – inmitten der zweifelhaften Anstössigkeit dieses Wortes – hoffen, dass sie gelingt, nicht in Konkurrenz zu den wissenschaft- lichen Naturgesetzen oder den garantierten Grundrechten, sondern in Kooperation mit allen Sprachen und Kulturen dieser Welt.
Drei Parameter könnten hilfreich sein für die Orientierung einer gegenwärtigen Gottesrede: Aufmerksamkeit für die Zeichen der Zeit, Massgeblichkeit der Menschenrechte und Angewiesenheit auf Kooperation. In eine von Zweifeln und Gefährdungen freie Eindeutigkeit und Wirksamkeit wird sie auch dadurch freilich nicht gelangen, wovon im Übrigen auch schon von Anfang an die heilige Schrift und ihre Auslegungen in den Traditionen der abrahamitischen Religionsfamilien zeugen. Sie bleibt involviert. Sie trägt die Signatur der Zeit, die ihr Veränderungen in Form und Bedeutung abverlangt.
Bernhard Fresacher