Seit langem ist der Ruf nach dezentralen Kirchenstrukturen laut hörbar. Damit es keine Missverständnisse gibt: Die folgende Wortmeldung formuliert keine Gegenposition, also kein Plädoyer für den Zentralismus. Aus ekklesiologischen Gründen halte ich die Reduktion ortskirchlicher Kompetenzen, wie sie seit Jahrhunderten geschieht, ebenso wie die daraus folgende Verkümmerung von Vielfalt in der Kirche für fatal. Mehr noch: Sie widerspricht einer gläubigen und rechtgläubigen Sicht der Kirche.
Klare Konzilsaussagen
Zahlreiche Bischöfe haben auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil in dieser Sache Klartext gesprochen. Die Konzilstexte selbst sind ihrerseits deutlich genug, wenngleich sie sich nachkonziliar nicht hinreichend entfalten konnten bzw. wieder durch andersartige Positionierungen überlagert wurden. In Theorie und Theologie bleibe auch ich bei dem Ruf nach dezentralen Kirchenstrukturen. Jedoch tauchen mir im Blick auf eine mögliche Umsetzung dieses Rufes in unserer Kirche heute bohrende Fragen auf.
Seit März 2013 amtiert ein Bischof von Rom, dem zuzutrauen ist, dass er Schritte in Richtung Dezentralisierung tun könnte. Wiederholt hat Papst Franziskus bereits auf das diversifizierende und einende Wirken des Heiligen Geistes hingewiesen. Gern zitiert er den Satz: «Ipse harmonia est.»1 Das heisst konkret: «Der Paraklet schafft alle Unterschiede in der Kirche, und es scheint, er sei ein Apostel Babels. Andererseits aber ist er es, der die Einheit dieser Unterschiede schafft, nicht in der ‹Gleichheit›, sondern in der Harmonie. (…) Der Paraklet, der einem jeden von uns verschiedene Charismen gibt, eint uns in dieser Gemeinschaft der Kirche, die den Vater, den Sohn und ihn, den Heiligen Geist, anbetet.»2 Umgekehrt finden sich in den Äusserungen Kardinal Bergoglios wiederholt kritische Äusserungen gegen eine gleichmacherische Globalisierung, die wohl nicht nur die ausserkirchlichen Verhältnisse betrifft.3
Bischöfliche Verantwortung
Den Bischöfen schärft der Papst ihre Verantwortung ein, und zwar als Verantwortung in regionalen Kontexten. So forderte er im Juli 2013 die Bischöfe des Koordinations-Komitees des CELAM mit der Frage heraus: «Sind wir uns der Verantwortung bewusst, die pastoralen Aktivitäten und das Funktionieren der kirchlichen Strukturen zu überdenken und dabei das Wohl der Gläubigen und der Gesellschaft im Auge zu haben?» Immer wieder werden die Bischöfe an die Nähe zu ihren Ortskirchen gemahnt: «Die Bischöfe müssen Hirten sein, nahe am Volk (…), Männer, die fähig sind, über die ihnen anvertraute Herde zu wachen und sich um alles zu kümmern, was sie zusammenhält: über ihr Volk zu wachen und Acht zu geben auf eventuelle Gefahren, die es bedrohen, doch vor allem, um die Hoffnung zu mehren: dass die Menschen Sonne und Licht im Herzen haben. Männer, die fähig sind, mit Liebe und Geduld die Schritte Gottes in seinem Volk zu unterstützen. Und der Platz, an dem der Bischof bei seinem Volk stehen muss, ist dreifach: entweder vorne, um den Weg anzuzeigen, oder inmitten unter ihnen, um sie geeint zu halten und Auflösungserscheinungen zu neutralisieren, oder auch dahinter, um dafür zusorgen, dass niemand zurückbleibt, aber auch und grundsätzlich, weil die Herde selbst ihren eigenen Spürsinn hat, um neue Wege zu finden.»4
Deswegen legt Papst Franziskus den Bischöfen die Rückbindung an die örtlichen Gremien ans Herz: «Ist es für uns ein übliches Kriterium, unser Urteil in der Pastoral auf den Ratschlag der Diözesanräte zu stützen? Sind diese Räte und jene auf Pfarreiebene für die Pastoral und die wirtschaftlichen Angelegenheiten wirkliche Räume für die Teilnahme der Laien an der Beratung, der Organisation und der pastoralen Planung? Das gute Funktionieren der Räte ist entscheidend. Ich glaube, dass wir darin noch sehr im Rückstand sind.»5
Dialog und Begegnung
Immer wieder spricht er vom Dialog und von der Kultur der Begegnung. Papst Franziskus hat einen Kardinalsrat einberufen, der im Oktober 2013 erstmals zusammentritt, dem Vernehmen nach aber bereits jetzt durch Kontakte vernetzt ist. Seine Aufgabe dürfte vermutlich auch im Nachdenken über Dezentralisierung bestehen.
Bei solchen Perspektiven, so erfreulich sie sind, erwachen meine Bedenken. Sind die Ortskirchen darauf vorbereitet? Haben sie geistlich und theologisch gebildete Räte, die Verantwortung übernehmen können und dafür Formen der Beratung und Entscheidung gefunden haben? (Zum Glück haben wir in der Schweiz aufgrund der demokratischen Kultur und nicht zuletzt durch das duale System hier wohl mehr Erfahrung als andere Ortskirchen!) Finden sich genügend hörbereite, dialogfähige Bischöfe? Sind sie nicht zu lange auf ein Hören vornehmlich nach oben verpflichtet worden und davon geprägt? Bleibt den Bischöfen in ihren vielfältigen Aufgaben überhaupt genügend Zeit, sich in aktuellen Fragen jeweils auch durch fundierte Information und theologische Reflexion zu orientieren?
Vorbereitung nötig
Keine Sorge, in früheren Zeiten war nicht alles besser. Auch das Zweite Vatikanische Konzil diente vielen Bischöfen als Fortbildungsveranstaltung. Manche theologischen Berater rauften sich die Haare. Aber diese Bischöfe haben sich theologische Berater gewählt (und waren dazu aufgefordert worden). Welches Gewicht haben in den Bischofskonferenzen die theologischen Kommissionen? Sind die Bischöfe gewohnt, sich von ihnen beraten zu lassen und sich wirklich mit theologischen Fragestellungen auseinanderzusetzen? Allgemeiner formuliert: Ist allen Verantwortlichen klar, dass sie eine Reflexionskultur in ihren Ortskirchen fördern müssen, über die theologischen Fakultäten, über die Förderung einer theologischen und kirchlichen Presse?
Denn: Dezentralisierung bedeutet, dass in Zukunft grössere Entscheidungsmöglichkeiten und darum grössere Verantwortung in den Ortskirchen liegt, bei den Bischöfen zusammen mit ihren pastoralen Mitarbeitenden und mit ihren Räten, bei den Bischofskonferenzen auf der Basis der in den Ortskirchen gepflegten Kultur der Reflexion und Verantwortung. Es tut not, dass Ortskirchen, Bischöfe und Bischofskonferenzen sich auf solche Aufgaben seriös vorbereiten.
Aus dem Papst-Exklusivinterview für die europäischen Jesuitenzeitschriften
Auf der Homepage der deutschen Jesuitenzeitschrift «Stimmen der Zeit» (www.stimmen-der-zeit.de) ist das Papstinterview in deutscher Übersetzung zugänglich, das am Wochenende vom 22. September 2013 breiten Widerhall in den säkularen Medien gefunden hat und inhaltlich zweifellos von grosser Tragweite ist. Wir dokumentieren Sätze, die in direktem thematischem Bezug zum vorliegenden Frontartikel stehen:
Antonio Spadaro SJ: «Was denken Sie von den römischen Dikasterien?»
Papst Franziskus: «Die römischen Dikasterien (Kongregationen, Räte und die anderen Ämter) stehen im Dienst des Papstes und der Bischöfe. Sie müssen den Ortskirchen helfen oder den Bischofskonferenzen. Es sind Einrichtungen des Dienstes. In Einzelfällen, wenn man sie nicht richtig versteht, laufen sie Gefahr, Zensurstellen zu werden. Es ist eindrucksvoll, die Anklagen wegen Mangel an Rechtgläubigkeit, die in Rom eintreffen, zu sehen. Ich meine, dass diese von den Bischofskonferenzen untersucht werden müssen, die ihrerseits eine Hilfe aus Rom bekommen können. Die Fälle werden besser an Ort und Stelle behandelt. Die römischen Dikasterien sind Vermittler, sie sind nicht autonom.»
«Wie kann man den Primat des Petrus mit der Synodalität vereinbaren? Welche Wege sind praktikabel – auch in ökumenischer Perspektive?»
«Man muss gemeinsam gehen: Volk, Bischöfe, Papst. Synodalität muss auf verschiedenen Ebenen gelebt werden. Vielleicht ist es Zeit, die Methode der Synode zu verändern, denn die derzeitige scheint mir statisch. Das kann dann auch einen ökumenischen Wert haben – besonders mit unseren orthodoxen Brüdern. Von ihnen kann man noch mehr den Sinn der bischöflichen Kollegialität und die Tradition der Synodalität lernen. Die Bemühung um die gemeinsame Reflexion, der Blick darauf, wie die Kirche in den ersten Jahrhunderten vor dem Bruch zwischen Osten und Westen gelenkt wurde, wird zur rechten Zeit Frucht bringen. In den ökumenischen Beziehungen ist dies wichtig: das, was der Geist in den anderen gesät hat, nicht nur besser zu kennen, sondern vor allem auch besser anzuerkennen als ein Geschenk auch an uns. Ich möchte in der Reflexion über den Primat des Petrus fortfahren, der 2007 von der ‹Gemischten Kommission› begonnen wurde. Er hat zur Unterschrift des Dokuments von Ravenna geführt. Auf diesem Weg muss man fortfahren.»