Weisheit(s) – Lehre

29. Sonntag im Jahreskreis: 2 Tim 3,14–4,2 (Ex 17,8–13; Lk 18,1–8)

Wissen ist Macht, und was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss. Unser Leben scheint sich – abgesehen vom Vergnügen – um das Wissen zu drehen. Dabei wird durch die erste Behauptung deutlich, dass wir mit dem Wissen nicht in erster Linie Weisheit verbinden.

Der zweite Brief an Timotheus im jüdischen Kontext

Der Textabschnitt 2 Tim 3,14–4,2 ist geprägt von Begriffen, die im weitesten Sinn mit Lehre zu tun haben: lernen, überzeugt werden, die heiligen Schriften kennen, Weisheit, Überführung, Richtigstellung, Erziehung, (zum guten Werk) bereit/gerüstet sein, das Wort verkünden, zurechtweisen, tadeln, ermahnen, Belehrung (didaskalia und didache). Der Charakter wechselt dabei von der Einbettung in die Tradition, der Verwurzelung in den Überlieferungen zur Entwicklung einer Lehre, einer Lehrmeinung. Diese Veränderung widerspiegelt sich im Wortbefund: didache findet sich in der Septuaginta lediglich in Ps 59,1. Didaskalia wird in der Septuaginta ebenfalls sehr selten verwendet, und auch im Neuen Testament sind von 21 Vorkommen 15 in den Pastoralbriefen, also den späteren Schriften auszumachen. Ganz offensichtlich entspricht die Vorstellung einer Lehre, die durch einen Lehrer, eine Lehrerin vermittelt und geprägt und von Schülerinnen und Schülern verstandesmässig aufgenommen wird, im Zusammenhang mit dem Glauben und dem Wort Gottes nicht dem alttestamentlichen (hebräischen) Denken. Gottes Weisheit, die in den heiligen Schriften zu finden ist und durch diese sowie durch die Propheten vermittelt wird, muss nicht gelehrt und gelernt, sondern lediglich weitergegeben und angenommen werden. Timotheus wird erinnert: «Du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können» (2 Tim 3,15). Dabei ist nicht die Rede vom pais, vom Kind, das bereits ein gewisses Alter und damit eine gewisse kognitive Lernfähigkeit hat, sondern vom brefos, vom Neugeborenen, vom Säugling. Er hat also die Weisheit gewissermassen wie die Muttermilch in sich aufgenommen, wurde von ihr genährt, am Leben gehalten und konnte durch sie wachsen und sich entwickeln.

Im Buch Jesus Sirach steht die didaskalia bei beiden Erwähnungen (Sir 24,33; 39,8) in direktem Zusammenhang mit dem nomos. Das Gesetz, «das Bundesbuch des höchsten Gottes (…) ist voll von Weisheit, (…) strömt über von Einsicht, fliesst von Belehrung über (…). Übervoll wie das Meer ist sein Sinn, sein Rat ist tiefer als der Ozean» (Sir 24,23–29). Was die heiligen Schriften vermitteln und woran die Propheten immer wieder erinnern, ist kein logisches Gedankengebäude, sind nicht Merksätze, die es (auswendig) zu lernen gilt. Es sind Weisungen, in die man sich vertiefen, die man zu erforschen und zu ergründen versuchen soll, sodass sie zur Lebensbewältigung helfen können. Obwohl die konkreten Gebote und Verbote in den fünf Büchern Mose umfangreich und detailliert festgehalten werden, so ist doch das Zentrum der Tora das Eingreifen Gottes in die Geschichte seines Volkes, angefangen bei der Befreiung aus Ägypten. Und auch die Propheten erinnern durch ihre Mahnreden in erster Linie daran, dass Gott sich nicht abgewandt, sich nicht zurückgezogen und verabschiedet hat, sondern stets gegenwärtig ist, Anteil nimmt und wo nötig eingreift. Die didaskalia hat wie die Prophetie die Aufgabe, Gottes weises und engagiertes Eingreifen sichtbar zu machen, daran zu erinnern. Sie ist keine Lehre im Sinne einer Dogmatik, die definiert, richtig und falsch abgrenzt. Der Gesetzeslehrer (didaskalos) hat denn auch nicht die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern: «Die Weisheit aller Vorfahren ergründet er und beschäftigt sich mit den Weissagungen; (…) er erforscht den verborgenen Sinn der Gleichnisse, (…) er richtet seinen Sinn darauf, den Herrn, seinen Schöpfer zu suchen, und betet zum Höchsten» (Sir 39,1–5). Nur «wenn Gott, der Höchste, es will, wird er mit dem Geist der Einsicht erfüllt: (…) bringt eigene Weisheitsworte hervor, (…) versteht sich auf Rat und Erkenntnis, (…) trägt verständige Lehre vor» (Sir 39,6–8).

Heute mit 2 Tim im Gespräch

Timotheus wird aufgefordert, bei dem zu bleiben, was er gelernt und für glaubwürdig befunden (epistothes) hat. Er soll sich dadurch abgrenzen von denen, die «sich der Wahrheit widersetzen», deren «Denken verdorben» ist und deren «Unverstand allen offenkundig» werden wird (2 Tim 3,8 f.). Anders als Paulus scheint es dem Verfasser des Briefes jedoch nicht mehr zu genügen, auf die heiligen Schriften und auf Gottes, am Schicksal Jesu Christi erneut deutlich gewordenes Heilshandeln zu verweisen. Ihm scheint es notwendig geworden zu sein, daraus ein Argumentarium abzuleiten: «Jede von Gott eingehauchte Schrift ist auch nützlich zur Belehrung (didaskalia), zur Widerlegung, zur Richtigstellung, zur Erziehung (paideia) …» (2 Tim 3 ,16). Auch die Aufforderung an Timotheus, das Wort zu verkünden, wird dahingehend weitergeführt, dass er zurechtweisen, tadeln und ermahnen soll «in unermüdlicher und geduldiger Belehrung (didache)» (2 Tim 4,2). Unterscheidet sich also das Christentum vom Judentum dadurch, dass es nicht Gott verkündet sondern den Glauben lehrt, dass es nicht auf die Wirkkraft des göttlichen Wortes allein vertraut, sondern ihm mit Argumenten und «Beweisen » zu Hilfe kommen will? Hat der Verfasser im Bemühen, ihr entgegenzutreten, gerade die Entwicklung befördert, vor der er warnt: «Den Schein der Frömmigkeit werden sie [die Menschen der Endzeit] wahren, die Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen» (2 Tim 3,5)? Haben wir auf der Suche nach dem Wissen, wann, wo und wie die Schriften entstanden sind, welche Worte Jesus wirklich gesprochen hat, was wirklich geschehen ist, die Weisheit der Verkündigung aus den Augen verloren? Wie uns der Verfasser zeigt, muss jedoch das eine nicht das andere ausschliessen, wenn Timotheus (stellvertretend für uns) bei dem bleibt, was er von Kindheit bzw. seit der Geburt kennengelernt hat. Wenn wir uns bemühen, aus den heiligen Schriften nicht nur die Belehrung herauszuarbeiten, sondern auch die Weisheit zu ergründen suchen, gelingt es uns vielleicht, beide kraftvoll und überzeugend zu verbinden wie der Weisheitslehrer Jesus Sirach: «Ich selbst war wie ein Bewässerungsgraben, wie ein Kanal, der hinabfliesst zum Garten (…). So strahle ich weiterhin Belehrung aus wie die Morgenröte, ich lasse sie leuchten bis in die Ferne. Weiterhin giesse ich Lehre aus wie Prophetenworte und hinterlasse sie fernsten Generationen. Seht, nicht allein für mich habe ich mich geplagt, sondern für alle, die Weisheit suchen» (Sir 24,30.32–34).

 

Katharina Schmocker Steiner

Katharina Schmocker Steiner

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.